Anregende Filme für aufregende Tage: Teil 1 – Dramen über Lebensentwürfe und -brüche

Ich liebe gute und anregende Filme. Auch wenn die Suche nach ihnen nicht immer leicht ist, liebe ich das Gefühl, für 90 oder 120 Minuten in eine fremde Welt einzutauchen – sei es eine andere Gefühlswelt, eine fremde Kultur oder eine andere Zeit. Ich glaube kein anderes Medium hat das Potential, in so kurzer Zeit eine so intensive, immersive, Empathie-anregende und lehrreiche Erfahrung zu vermitteln wie der Film. Serien strecken sich für meinen Geschmack zu lange hin, kosten entsprechend zu viel Zeit und weisen einen zu großen Suchtfaktor auf. Zudem bin ich trotz meines Wunsches nach Tiefe kein Freund langgezogener Erzählungen, zumindest nicht im Serienformat. Mir reicht ein tiefer und intensiver Einblick, der einen mit Fragen, Denkanregungen und Gesprächsbedarf zurücklässt. Gute Bücher reißen mich zwar auch mit, bedürfen aber vieler Konzentration und Zeit. 

Daher freue ich mich (in wohldosierten Abständen) auf einen schönen Filmabend. Um euch auch diesen zu ermöglichen, stelle ich heute mal eine Liste mit empfehlenswerten Filmen zusammen, die zum Teil eher unter dem Mainstream-Radar liefen. Ich selber habe schon oft von Filmempfehlungen anderer profitiert und gebe daher meine eigenen gerne weiter – auch in der Hoffnung, dass dadurch potentielle Reflexionsgespräche oder Diskussionen zustande kommen! 🙂 Eine kleine Warnung: Wer mit meinem Geschreibsel auf diesem Blog nichts anfangen kann, wird wahrscheinlich auch einen anderen Filmgeschmack als ich haben. Viele der folgenden Filme sind eher langsam, dialoglastig und zuweilen aufgrund der Schwere nicht für einen Abschaltabend geeignet. Ich hoffe, ihr lasst euch trotzdem auf das eine oder andere Filmexperiment ein. 🙂 

Ich teile die Filme in Kategorien ein und werde jede Kategorie in einer Blogserie jeweils in einem Post vorstellen. Jede Kategorievorstellung möchte ich mit einem persönlichen Kommentar zur Einordnung in mein Leben und mein Weltbild abschließen (weil ich’s nicht lassen kann 🙈). Los geht’s mit…

Dramen: Persönliche Lebensgeschichten und -konzepte

Darunter fasse ich Filme, die sich mit persönlichen Lebensentwürfen und Biographien auseinandersetzen und dabei universal relevante Themen wie Liebe, Freundschaft, Berufswünsche oder Leid aufgreifen.

Criterion Review: Richard Linklater's BEFORE Trilogy Grapples With ...1.) Die Before-Trilogie: Ein ganz besonderes Filmprojekt. Der feinfühlige Regisseur R. Linklater hat das gleiche Paar über 18 Jahre „begleitet“ und in 9-Jahres-Abständen drei ganz wunderbare Filme kreiert: In Before Sunrise treffen sich Céline und Jesse als junge, lebensfrohe Menschen in einem Zug und verbringen spontan eine Nacht spazierend in Wien, wo sie in jugendlicher Begeisterung ihre Zukunftspläne und Weltanschauungen austauschen. Neun Jahre später treffen sie sich in Before Sunset mehr oder weniger zufällig in Paris wieder und reden als gereifte Menschen über ihre Berufe, verpasste Chancen, ihre schwierigen Beziehungen und vieles mehr. Weitere neun Jahre später in Before Midnight gibt es wieder ein langes Gespräch und einen epischen Streit, aber seht selbst…
Der Plot in diesen Filmen ist minimal, im Vordergrund steht die Begegnung, in der in kleinen Gesten und langen Gesprächen  die großen Lebensfragen von bezaubernden und ehrlichen Menschen aufgeworfen werden. Ich habe selten so tiefgehende, persönliche und gleichzeitig natürlich wirkende Dialoge in einem Film gesehen, die dazu fast in Echtzeit – also ohne Unterbrechung und Szenenwechsel – verfolgt werden können. Das Tempo ist langsam und dennoch wünsche ich mir, es würde nach dem Abspann weitergehen. Ich selbst habe mich in vielen Fragen wiedergefunden, gerade in denjenigen, die in Before Sunset, einem meiner Lieblingsfilme, taktvoll bewegt werden. Dazu am Ende der Liste mehr.

303 - Home - Jetzt AUF DVD, BLU-RAY & DIGITAL - Offizielle Webseite2.) 303: Der deutsche Regisseur H. Weingartner von 303 war ähnlich begeistert von den Before-Filmen wie ich und hat eine deutsche und etwas aktuellere Variante eines „Redeliebesfilms“ geschaffen. Jan und Jule treffen sich eher zufällig und reisen von Berlin bis nach Portugal in einem Caravan. Dieser Roadmovie ist einerseits eine Liebeserklärung an das vielfältige und freie Europa, anderseits und im Kern eine „langsame Annäherung zweier Seelen“, wie Weingartner seinen „Anti-Tinder-Film“ selbst beschreibt. Auch hier werden verschiedene Weltansichten diskutiert: „Braucht der Mensch Kooperation oder Konkurrenz?“ Ist Monogamie „gesellschaftlich programmiertes Unglück?“ Ähnliche zeitlose sowie moderne Fragen werden aufgeworfen und nicht immer eindeutig beantwortet. Gerade Jans radikale Überzeugungen geraten ins wanken, wenn es um sein persönliches Leben geht… Ein sehr sehenswerter und liebevoller Film, für den Einstieg in dieses „Genre“ ist 303 besser geeignet als die Before-Filme. Hier der Trailer, der die Grundstimmung des Films gut vermittelt:

Lost In Translation [UK Import]: Amazon.de: Bill Murray, Scarlett ...3.) Lost in Translation: Der US-Filmstar Bob (Bill Murray) befindet sich in einer Midlife-Crisis und macht in Japan eher halbherzig bei einem Whiskey-Spot mit, bei dessen Dreh er nur die Hälfte versteht. Er trifft die junge frisch verheiratete Charlotte (Scarlett Johansson), die eher planlos in ihre berufliche und persönliche Zukunft blickt und in Bob jemanden sieht, der ihr schon etwas voraus ist und vielleicht Orientierung geben könnte (aber letztlich nicht geben kann).
Es geht hier nicht um Romantik, sondern eher um das Bewältigen von Sinn- und Entscheidungskrisen. Der Film ist etwas schräg, unaufgeregt und dennoch seltsam faszinierend. Vor dem Hintergrund des schnellen und fremden Tokios wirken die beiden amerikanischen Protagonisten verloren. Kulturelle Differenzen werden nicht aufgelöst, es bleibt eine Sprachlosigkeit zurück, für die die Asien-Amerika-Differenz nur eine Schablone ist.

Ein Mann namens Ove: Amazon.de: Rolf Lassgård, Bahar Pars, Filip ...4.) Ein Mann namens Ove: Der Schwede Ove ist ein alter, einsamer und verbitterter Mann, der scheinbar keinerlei Sozialkompetenz aufzuweisen hat und Nachbarn ankläfft, pedantisch auf die Einhaltung von Ordnungsregeln besteht, kein Funken Lebensfreude zeigt und mehrere (schwer anzusehende) Suizidversuche unternimmt. Eine junge Nachbarschaftsfamilie mit iranischem Migrationshintergrund fordert ihn heraus und findet ein ganz wenig Zugang zu diesem schwierigen Zeitgenossen. Stück für Stück erfahren wir seine Lebensgeschichte in Rückblicken, die langsam Verständnis für ihn ermöglichen, auch wenn ein Restgefühl von Befremdung angesichts der Härte seines Tons und seiner Umgangsformen bleibt.
Für mich ein starker Film, der Mut macht, sich nicht nur mit hippen und umgänglichen jungen Leuten abzugeben, sondern sich auch enttäuschten und schwierigen Menschen zuzuwenden und Verständnis und Mitgefühl für Lebensbiographien zu entwickeln, die von Verletzungen, Leid und Rückschlägen gekennzeichnet sind.

Manchester by the Sea - Film 2016 - FILMSTARTS.de5.) Manchester By The Sea: Über diesen Film könnte ich fast das gleiche schreiben wie über den obigen „Ove“-Film, daher mache ich es hier kurz: Auch dieser Film ermöglicht das langsame Verstehen eines schwierigen Menschen, der bereits viel durchgemacht hat. Der Protagonist ist zwar jünger und das Setting ist die USA, dennoch arbeitet auch dieser Film mit geschickten Rückblicken und einer feinfühligen Charakterdarstellung. Hier kommt noch die interessante Geschichte des pubertierenden Neffen hinzu, um den sich der wortkarge Lee (Casey Affleck) kümmert und der die Familiengeschichte noch facettenreicher und dynamischer macht. 

Marriage Story - Film 2019 - FILMSTARTS.de5.) Marriage Story: Eigentlich müsste der Film „Divorce Story“ heißen, denn diese Netflix-Produktion zeigt das Zerbröckeln einer Ehe, die mit viel Freude und Kreativität gestartet ist. Charakterunterschiede und Selbstverwirklichungswünsche prallen hier so hart aufeinander, dass eine harmonische Ehe trotz der zu spürenden Chemie kaum möglich scheint. Die Scheidungsanwälte tun ihr übriges, um Öl ins Feuer zu gießen. Was diesem Film besonders gelingt, ist die beiden Perspektiven so aufzuzeigen, dass keiner der beiden der „Buh-Mann“ ist, der/die an allem Schuld ist. Wer die Komplikationen moderner Beziehungen nicht nur verstehen, sondern auch „fühlen“ will, kommt an diesem Film nicht vorbei (auch wenn hier einige Verhaltensweisen stark amerikanisch geprägt scheinen).

Another Year: Amazon.de: Jim Broadbent, Ruth Sheen, Lesley ...7.) Another Year: Eine Ehe, die im Alter noch funktioniert und von Vertrautheit, Zufriedenheit in kleinen Dingen und Verantwortung für andere geprägt ist. Dieser Film ist gewissermaßen ein Kontrastpunkt zum urbanen, jungen Pärchen in Marriage Story. Der Film begleitet ein warmherziges Ehepaar durch vier Jahreszeiten und zeigt in wunderbarer Alltäglichkeit wie das eher ruhige Glück zweier Menschen aussehen kann. An ihren Küchentisch kommen abwechselnd zwei problembeladene Menschen: Ken raucht und trinkt zu viel, sein Lebensmotto auf seinem T-Shirt: „Less thinking, more drinking.“ Mary hingegen lebt in Illusionen und kriegt trotz aller Bemühungen ihr Leben nicht so richtig auf die Kette. Sowohl Ken als auch Mary suchen in dem ruhigen Ehepaar Tom und Gerri (ja sie heißen wirklich so 😉) Geborgenheit, aber auch sie können ihre Grundprobleme trotz therapeutischen Feingefühls nicht so recht lösen.
Der Film ist schön, traurig und heiter zugleich. Alltägliches und stetiges Eheleben und -glück sieht man in Filmen viel zu selten, häufig geht es nur um das Zustandekommen oder das Ende einer Beziehung. Gleichzeitig geht es hier gar nicht so sehr um das private Glück eines gealterten Paares, sondern auch seine Offenheit für die Probleme anderer und die unweigerlichen Kontraste, die dadurch entstehen. 

Eine kurze Einordnung: Warum schwierige Lebensdramen?

Ich lebe in einer glücklichen monogamen Ehe, arbeite in einem Traumberuf und habe bisher noch nicht viel Leid erfahren. Warum sollte ich mir solche belastenden Filme mit anderen Lebenskonzepten „geben“ und die dann auch noch empfehlen?

Ich glaube jeder dieser Filme sensibilisiert auf seine Art und Weise für die großen und alltäglichen Fragen und Probleme vieler Menschen. Auch wenn ich auf der Oberfläche nicht mit einer Lebenskrise wie in Lost In Translation zu kämpfen habe oder keine Grießgram wie Ove bin, merke ich mit Anfang 30, wie zerbrechlich Lebensglück ist, wie leicht sich große Fragen in den Kopf einschleichen, wie kompliziert Menschen sein können, wie schwierig das Nebeneinander von Leid und Glück (wie in Another Year) ist und wie viele Möglichkeiten bereits vertan sind und was alles nicht mehr möglich ist. 

Viele der Probleme, die die Charaktere in den genannten Filme haben, haben mit einer gewissen Orientierung- und Haltlosigkeit zu tun. Jan und Jule in 303 versuchen ihr Leben irgendwie zu meistern, wissen aber noch nicht so recht wofür und wie. Das Paar in Marriage Story hat zwar Ziele, diese sind aber höchst individuell und lassen wenig Kompromissfähigkeit zu. Oves und Lees Lebensglück in Filmen 4+5 fußte vor allem auf die Liebe zur Frau. Ohne sie scheint das Leben sinnlos. Mary in Another Year stellt sich der Realität nicht und lebt in Zukunftsträumen und viel zu schrillen Kleidern. All dies ist verständlich und soll auch erstmal so stehen bleiben. 

Als Christ hilft es mir, solche Filme auf einem „sicheren Fundament“ zu schauen. Mein Fundament ist hier der Glaube an Jesus, der mir eine Art moralischen Kompass vorgibt und mir Berufung und Sinn für ein Leben mit ihm schenkt. Der moralische Kompass hilft mir, eine gewisse Haltung anzustreben, die (das ist zumindest das christliche Ideal) weniger auf Selbstverwirklichung, sondern auf Hingabe, Aufopferung und commitment ausgerichtet ist. Die von Jan in 303 kritisierte Monogamie ist für mich daher nicht ein überkommenes Beziehungskonzept, sondern eine ganz bewusste Hingabe an einen Menschen. Gleichzeitig ist meine Frau nicht mein alleiniger Anker und Messias, denn diese Funktion kann sie gar nicht erfüllen, ebenso wenig wie ich das für sie kann. In meinem Glaubensverständnis kann nur Jesus diese Rolle ausfüllen.

Am „christlichsten“ von all diesen Filmen scheint mir fast schon Another Year zu sein: Das Paar sucht sein Glück nicht allein in sich selbst, sondern in der Zuwendung zu Anderen, auch wenn diese Zuwendung zugegeben nicht besonders radikal und aufopferungsvoll daherkommt, sondern sich eher in der bloßen Präsenz und im Zuhören äußert. Wirkliche „Heilung“ im Sinne einer inneren „Wiederherstellung“ und einer neuen Zuversicht passiert auch hier nicht. Wo ich glaube dass es sie gibt, könnt ihr euch denken 😉 Am Ende des Artikels gibt es einen kleinen Hinweis…


Dies ist der erste Post einer Serie. Im nächsten Post soll es auch um Drama gehen, jedoch mit dem Schwerpunkt „Coming of Age“. Abonniert gerne den Blog, dann bleibt ihr informiert.


Was denkt ihr? Habt ihr noch weitere Filmempfehlungen für derlei „Lebensdramen“? Habt ihr einen dieser Filme gesehen und eine ähnliche oder ganz andere Meinung? Habt ihr es noch vor? Lasst es mich gerne wissen, ich komme liebend gerne über Filme ins Gespräch 🙂

Jesus spricht: »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.« – Lukas 4,18

 

Dieser Post ist Teil einer Serie über meine persönlichen Filmempfehlungen.

Teil 1: Lebensdramen
Teil 2: Coming-of-Age
Rest folgt 🙂

 

Ein Kommentar zu „Anregende Filme für aufregende Tage: Teil 1 – Dramen über Lebensentwürfe und -brüche

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