Anregende Filme für aufregende Tage (2) – Coming of Age Filme für jung & alt

Auch wenn ich als mittlerweile Dreißigjähriger aus dem Alter für Coming of Age-Filme raus bin, scheue ich sie nicht grundsätzlich. Zwar bilden kitschige High School-Filme mit aufgebauschten Zickenkriegen, Partyeskapaden und eindimensionalen Cliquen nur sehr wenig meiner vergangenen und jetzigen Lebensrealität ab, aber es gibt auch Filme über Teenager, die etwas in mir bewegen. Tolle Coming-of-Age-Filme versetzen mich einerseits gedanklich in meine eigenen Teenager-Jahre zurück, andererseits nehmen sie mich emotional in Prozesse mit hinein, die bis heute nicht gänzlich abgeschlossen sind.

Denn das rasante Älterwerden, die Herausbildung der eigenen Identität, die unbeholfene Suche nach Kumpanen und Freunden und auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Überzeugungen – dieser Prozess ist auf dieser Seite des Lebens nie ganz abgeschlossen. Dennoch sind all diese Erfahrungen und Herausforderungen in den Pubertätsjahren intensiver und mit mehr Unsicherheit verbunden.

Somit können gute Coming of Age-Filme das anregen, was ich in einem anderen Post „Altersempathie“ nenne. Auch wenn wir Älteren nicht mehr in der Sturm-und-Drang-Phase der Jugend sind und zumeist persönlich und sozial gefestigter leben, können wir durch gute Charakterstudien in Coming of Age-Filmen ein wenig besser und sanftmütiger mit den Stimmungen, Empfindlichkeiten, anderen Lebenswelten von Jugendlichen umgehen.

Hier einige Filme, die dabei hilfreich sein können 😊

1.) Boyhood

Ähnlich wie die Before-Filme, die ich im ersten Teil angepriesen habe, hat der Regisseur Richard Linklater auch hier ein besonderes Filmprojekt geschaffen. Boyhood wurde über den Verlauf von 12 (!) Jahren gedreht, wodurch wir als Zuschauer den Protagonisten Mason und auch seine Umgebung ganz „natürlich“ – ohne Maske und Schauspielerwechsel – aufwachsen sehen können.

Auch die Filmlänge, die minimale Handlung und die Charakterdarstellung tragen zu einem Gefühl von Natürlichkeit bei. Der Film dauert fast 3 Std. und bietet wenig „Action“. Wir sehen, wie sich die Familienverhältnisse ändern, welche Schulen Mason besucht, welche Freunde er findet und welche Interessen er entwickelt. Es passiert wenig Dramatisches und Aufregendes, viele Szenen zeichnen den Alltag: Geburtstage, Besuche, Autofahrten, Unterricht, Gespräche und Wochenendausflüge. Auch wenn Mason im Mittelpunkt steht und viel geredet wird, können wir seine Gedanken oft nur vermuten – vieles wird gezeigt, nicht direkt gesagt. Mason ist anfangs recht schüchtern, später auch mal mürrisch und damit wohl ein recht typisches Beispiel für Jungs in der Pubertät.

Die Charaktere um ihn herum werden primär aus Masons Sicht gezeigt. Wir als Zuschauer können teilweise nur ahnen, was gerade seine aufopferungsvolle alleinerziehende Mutter durchmacht, während Mason sich teils wenig dankbar zeigt und lieber in Videospielen aufgeht. Diese Blindheit für die Bedürfnisse anderer, die ich als Teenager und wahrscheinlich auch andere schon zumindest teilweise hatten, ist nur ein Beispiel dafür, wie „realistisch“ und ehrlich sich der Film anfühlt, ohne moralisierend und allzu dramatisch den Zeigefinger zu heben.

Boyhood mag aufgrund seiner Länge und Actionarmut für einige als langweilig und -atmig daherkommen. Wer sich jedoch auf einen Film einstellt, der feinfühlig, taktvoll und in der gebotenen Ausführlichkeit das Großwerden eines Jungen zeigt, wird sich vielleicht wie ich am Ende wünschen, noch ein wenig weiter Mason und seine Lieben zu verfolgen.

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2.) Eighth Grade

Ich kenne keinen Film, der das komplizierte Leben eines Teenagers im heutigen Medienzeitalter und die allgemeine „awkwardness“ des Heranwachsens so genau und so gnadenlos aufzeigt wie Eighth Grade. Die 13-jährige Kayla dreht für ihren kaum besuchten YouTube-Channel Ermutigungsvideos, die alle amerikanischen Insta-Weisheiten und Kalendersprüche der letzten Jahre vereinen: „Sei du selbst!“, „Steh zu dir!“, „Habe Mut“ – die ganze Palette. Kayla schafft es jedoch kaum, ihren eigenen Mantras gerecht zu werden und fristet im „echten“ Leben ein ziemlich trostloses, einsames und unsicheres Dasein. So flüchtet sie sich häufig in die sozialen Medien und holt sich dort Rat und Verbundenheit. Ihr geduldiger Vater versucht sie zu verstehen und zu begleiten, Kayla empfindet ihn aber als nervig und blockt zumeist ab. Sowohl in der Schule als auch im Privaten ist sie vor soziale Herausforderungen gestellt, die ihr Angst bereiten und sie auch überfordern.

Wer als Lehrer, Eltern oder einfach nur als älterer Mensch ein wenig verstehen möchte, wie sich das Leben von Teenagern unter dem Druck von on- und offline-Einflüssen heutzutage zumindest anfühlen könnte, dem sei dieser herzzerreißende und zuweilen auch witzige Film ans Herz gelegt!

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3.) Der Club der toten Dichter

Der motivierte, leicht exzentrische und inspirierende Englischlehrer Keating mischt ein Eliteinternat für Jungen auf, indem er durch ungewöhnliche Methoden, Theatralik und einer Mischung aus Zuspruch und Herausforderung seine Schüler zu selbstständigem Handeln und zur Entfaltung der Individualität statt blinder Konformität anregt. Auch wenn Keating in seiner Persönlichkeit und Wirkmächtigkeit stark im Vordergrund des Films steht, werden auch hier teenagertypische Transformationsprozesse, die typisch für das Coming-of-Age-Genre sind, behandelt: So fragen sich Keatings Schüler Neil und Todd: Was will ich eigentlich, was nur meine Eltern? Wer bin ich eigentlich, wenn keiner etwas von mir verlangt? Wofür bin ich hier?

Die meisten Jugendlichen sind vermutlich im heutigen Deutschland nicht einem solchen Druck ausgesetzt wie die Jungs in Anzügen im Hochleistungsinternat des Films. Das Pendel scheint heute viel mehr in die andere Richtung zu schwingen: Individualität, Freiheit und Selbstentfaltung werden in der Pädagogik und in den Medien sehr großgeschrieben. Dennoch ist Der Club der toten Dichter als rührende Darstellung der zeitlosen Zerrissenheit zwischen dem „Ich“ und „den Anderen“ immer noch relevant. Ein inspirierender Klassiker und ein Tribut an die Genialität des leider verstorbenen Robin Williams.

Streaming: Ab 3 Euro bei amazon

4.) Hunt for the Wilderpeople (Wo die wilden Menschen jagen)

Dieser schräge und erfolgreichste neuseeländische Film aller Zeiten ist eine Mischung aus Systemsprenger, Into the Wild und Captain Fantastic. Der straffällige und schwer integrierbare Ricky mit Gangster-Attitüde fällt aus dem staatlichen Fürsorgesystem. Die letzte Hoffnung auf eine bessere Entwicklung: Ein Aufenthalt in der Pampa, ohne Ablenkung und andere Menschen – diese Prämisse ähnelt der von Systemsprenger. Aus verschiedenen Gründen, die ich, um nicht zu spoilern, hier nicht verrate, fliehen er und sein neuer mürrischer Fürsorgevater Hector in die wunderschöne neuseeländische Wildnis (ähnlich zu Into the Wild) und schauen von hier recht kritisch und humorvoll auf die Zivilisation (Captain Fantastic), die die beiden unter größter Anstrengung sucht.

Dieser Film hat nicht die Schwere vieler Coming-of-Age-Filme, vielmehr ist er eher eine Art Abenteuerkomödie über einen schwierigen Jungen, der sich in der Wildnis neu entdeckt. Er lernt neue Fertigkeiten, entwickelt Mut, Schlagfertigkeit und Verständnis und vergisst dennoch nicht, wo er herkommt. Der Film pfeift ganz bewusst auf „Realismus“. So wirken die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen zuweilen total überdreht, auch viele Charaktere wie der Verschwörungstheoretiker und Eremit „Psycho Sam“ haben gehörig einen „an der Klatsche“. Auf metaphorischer Ebene scheinen selbst diese überzeichneten Szenen für existentielle Konflikte zwischen Individuum und Kollektiv zu stehen. Der Film ist voller Herz, Energie, Humor, Verrücktheit, Liebe und Leichtigkeit. Ein Geheimtipp!

Streaming: Ab 3 Euro bei amazon

5.) Der Junge muss an die frische Luft

Ein berührender Einblick in die bewegte Kindheit von Comedian Hape Kerkeling. Wir sehen, wie er schon früh ein Talent dafür entwickelt, andere Menschen zu imitieren, „Späßken“ zu machen, den Ruhrpott-Akzent aufzusetzen und mit Gesichtsausdrücken zu spielen. Dabei ist seine Kindheit nicht immer einfach: Schon früh wird er mit Krankheit und Tod konfrontiert. Der kleine Hans-Peter versucht seinen eigenen Umgang damit zu finden: In ganz bewegenden Szenen ist zu sehen, wie er durch allerlei Albernheiten seine depressive Mutter aufzumuntern versucht.

Beeindruckend ist nicht nur der Charakter und der Witz des Hans-Peters, sondern auch seine liebevolle und schrullige erweiterte Verwandtschaft, die ihn im Stile einer italienischen Großfamilie immer wieder auffängt, ermutigt und ihn sein lässt. Solch ein Glück erleben viele junge Menschen in unser tendenziell mobilen und entwurzelten Gesellschaft wohl nur noch selten.

Man mag zu Kerkeling und seinem Humor stehen, wie man will: Der Film ist eine schöne Ode sowohl an die Wichtigkeit der Persönlichkeits- und Talententfaltung im Leben eines jungen Menschen als auch gleichzeitig an die Kraft des Humors in schönen und schwierigen Tagen. Sehenswert!

Streaming: ab 6,99 Euro bei Rakuten.TV

Drei kurze nennenswerte Erwähnungen

• Das Schicksal ist ein mieser Verräter: Die Verfilmung von John Greens Bestsellerroman zeigt zwei ziemlich weise Teenager, die sich bei einer Selbsthilfegruppe für kranke Jugendliche kennenlernen und ineinander verlieben. Da die beiden Protagonisten aufgrund ihrer Krankheiten nur kurze Lebenserwartungen haben, kann nicht von einem typischen Heranwachsen eines klassischen Coming-of-Age-Films gesprochen werden. Der Film drückt ziemlich auf die Tränendrüse, ist aber dennoch eine schöne Teenie-Romanze mit ernstem Hintergrund.  Streaming: Kostenlos bei Netflix, 3 Euro bei Amazon
• The Perks of Being a Wallflower (Vielleicht lieber morgen): Auch dieser Film basiert auf einem erfolgreichen Roman und hat zuweilen ernste Hintergründe, die jedoch erst gegen Ende des Films deutlich werden. Der schüchterne Charlie wird in eine Clique von problembelasteten aber auch gleichzeitig liebevollen, lebenslustigen und ehrlichen Menschen integriert. Einerseits behandelt der Film die gängigen dramatischen Elemente eines Coming-of-Age-Films, andererseits scheinen mir die abseits des Mainstreams lebenden Charaktere tiefer und vielschichtiger gezeichnet als sonst für das Genre üblich. Streaming: Ab 3 Euro bei Amazon
• Wonder (Wunder): Auggie hat eine seltene Gesichtsdeformation und trägt anfangs einen Helm, um sich vor den Blicken der anderen zu schützen. In der Schule jedoch muss er (im engeren Sinne des Wortes) „sein wahres Gesicht“ zeigen und irgendwie Anschluss finden. Besonders stark finde ich an diesem Film die Multiperspektivität: Seine Eltern versuchen ihm Mut zu machen, seine Schwester Via fühlt sich zuweilen übersehen. Auch der Hintergrund von Julian, der Auggie böse mobbt, wird im Laufe des Films immer näher beleuchtet.  Ein schöner und positiver Film über die besonderen Herausforderungen des Aufwachsens „unter schwierigen Bedingungen“. Streaming: Ab 3 Euro bei Amazon.

Eine kurze Einordnung: Verstehen und Begleiten von Jugendlichen

Fast alle diese Filme zeigen mal auf ruhige (Boyhood), peinliche (Eighth Grade), inspirierende (Der Club der toten Dichter) und zuweilen auch humorvolle (Hunt for the Wilderpeople, Der Junge muss an die frische Luft) Art und Weise die Schwierigkeiten des Lebens als Heranwachsende/r. Äußere aber auch häufig innere Konflikte verschiedenster Art machen die Kinder- und Jugendzeit häufig unsicher, emotional und intensiv. Was kann da helfen?

In den aufgezeigten Filmen werden verschiedene Lösungsstrategien der Teenager aufgezeigt: Humor, Rebellion, Mut, Flucht oder Freundschaft. Jede dieser Strategien hat je nach Situation ihren Platz. Doch was mich nachträglich am meisten beeindruckte, war die Begleitung des Vaters von Kayla in Eighth Grade. Er versucht immer wieder, eine Verbindung zu seiner Tochter aufzubauen, auch wenn diese lieber ihre Kopfhörer im Ohr hat. Er versucht sie zu schützen, wo er kann; aber er lässt sie auch gewähren, wo es geht. Er sieht ihre Probleme, ihre Launen und Unsicherheiten und streckt sich helfend nach ihr aus, ohne sie zu bedrängen. Dabei bekommt er anfangs nicht viel zurück, die Beziehung zwischen ihm und seiner Tochter ist eher eine Einbahnstraße.

In dieser liebevollen und beständigen Vaterliebe sehe ich als Jesus-Nachfolger ein kleines Bild für die bedingungslose agape-Liebe von Jesus, der seinen Jüngern und auch anderen Menschen immer wieder nachgegangen ist und seine Liebe gezeigt hat, auch wenn oft nicht viel zurückkam. Ich denke aber auch an die unerschütterliche Liebe meiner Eltern in meiner Teenager-Zeit, in der ich selbst manchmal unkommunikativ, abwesend, lieblos und gereizt war. Danke an euch und auch an alle anderen, die Jugendlichen beim „Coming of Age“ so treu, gnädig und liebevoll zur Seite stehen 🙂

Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. – 1. Johannes 4,19