Warum ich noch alte Tassen im Schrank habe

  • „50 Shades of Earl Grey“
  • „Keep calm and pretend it’s on the lesson plan“
  • „I donut care“

Diese und andere Tassenweisheiten stehen in unserem Küchenschrank. Jeder Studi kann wohl seine ganz eigenen Tassensprüche zum Besten geben. „Der frühe Vogel kann mich mal“, „I need a little bit of coffee and a whole lot of Jesus“ – da ist für jeden Typ was dabei. Unser Schrank bildet ein buntes Sammelsorium von Tassen aus vergangenen Zeiten: SMD-Konferenztassen, witzige Geschenkideen, Freundschaftskitsch und Urlaubsmitbringsel. Wenn wir Besuchern ein Heißgetränk anbieten, dann meist aus diesen Behältern, die eigentlich gar nicht mehr in unsere Lebensphase passen.

Wir sind doch jetzt schon beinahe zwei Jahre verheiratet und kommen nun in eine Phase, in der man aus einem einheitlichen Service seinen Kaffee trinkt. Mindestens das einfarbige Ikea-Set muss es sein, schön stapelbar und ohne Schnickschnack. Diese alten WG-Tassen mit lauter Motiven, Schriftzügen und Logos aus einer längst entfernten Zeit sind in ihrer Formverschiedenheit unpraktisch und aus der Entfernung betrachtet auch ziemlich hässlich, irgendwie ein unpassender Farbfleck in einer eher dezenten und hellen Küche. Je mehr ich darüber nachdenke, desto wundersamer erscheint es mir, dass Luise mit ihrem Sinn für Ästhetik und Symmetrie dieses Tassenpotpourri nicht schon längst aussortiert hat.

Doch etwas in mir sträubt sich dagegen, sie einfach wegzuschmeißen und unsere Tassen zu uniformieren. Ich weiß, der Zeitpunkt wird wohl irgendwann kommen – Widerstand ist zwecklos. Aber wer meinen Blog schon länger mitverfolgt, weiß, dass ich viel „nostalgisiere“ und nicht selten alten Zeiten hinterhertrauere oder zumindest öfters an sie denke. Auch wenn nicht jede Tasse eine tiefe Geschichte erzählt, so stehen sie zusammengenommen für eine Zeit, in der man einfach irgendwie Sachen zu seinem Leben hinzugefügt hat oder sie einem hinzugefügt wurden, ohne Sinn für ein passendes Ganzes: Konferenzbesuche, WGs, Freunde, Kontakte, Urlaube, Trivialitäten – vieles kam einfach dazu. Doch jetzt muss konsolidiert werden – Job, Ort, Wohnung, Geschmack, Freunde – allmählich muss alles zusammenpassen. Ramsch raus, Richtung rein.

Zusätzlich befeuert wird dieser Harmonisierungsimpuls von meinem Umfeld: Je öfter meine Freunde Häuser bauen, Geburtsnachrichten verschicken und je häufiger meine Geburtstage mit einer 3 beginnen, desto mehr fühle ich mich gedrängt, Altes zurückzulassen und ganz auf Erwachsenenmodus zu stellen.

Auch wenn ich einem zupackenden Lebensstil mit zügiger Verantwortungsübernahme wirklich viel abgewinnen kann, so frage ich mich durchaus, ob ich wirklich alle gängigen Konventionen des Erwachsenwerdens mitmachen muss. Muss ich tatsächlich alte Tassen hinauswerfen? Brauche ich wirklich diese wundersamen ETFs, von denen seit 1-2 Jahren in meinem Umfeld plötzlich jeder spricht? Muss das 1,40er-Bett nach spätestens 2 Ehe-Jahren dem King-Size-Bett weichen? (Prinz Pi lehnt das ab!) Geht mit den wachsenden finanziellen Möglichkeiten automatisch eine größere Wohnung oder gleich ein Haus einher? Und wann ist eigentlich Zeit für den Thermomix?

Nicht falsch verstehen: All diese Dinge haben durchaus ihren Sinn, gerade in Zeiten von niedrigen Zinsen und pandemiebedingter vermehrter Zeit zu Hause. Ich merke nur, wie schwer es ist, sich dem Sog eines bürgerlichen Lebens zu entziehen, in dem es primär um Aufstieg und Bequemlichkeit geht. Wie soll man seiner Berufung nachlaufen, wenn Gespräche und Gedanken nur noch um Sicherheiten, Anschaffungen und das nächste Lebenslevel kreisen? Jesu radikale Ideen von Jüngerschaft, Aufopferung und Nächstenliebe, die mir in der fantastischen Serie „The Chosen“ neu bewusst werden, drohen an mir abzuprallen und zu verpuffen, wenn die Konventionen meines Umfelds und der Medien mein tägliches Leben bestimmen. Ein praktisches Beispiel: Wenn ich bewusst oder unterbewusst denke, dass mir jetzt aufgrund meines Alters und Jobs zahlreiche materielle Privilegien zustehen und wir uns nun ganz viel gönnen sollten, dann wird sich meine Spendenbereitschaft nicht groß steigern, weil das Geld für allerlei  Privat-„Projekte“ vorgesehen ist. Warum kann man also nicht erstmal so lange in einer kleineren Wohnung bleiben, bis man wirklich eine größere braucht?

Natürlich kann ein größerer Wohnraum und andere Vorzüge eines wohlsituierten bürgerlichen Lebens auch dafür gebraucht werden, anderen ein Segen zu sein – z.B. in Form von Übernachtungsmöglicheiten für Gäste, Autoverleih an Freunde, Thermomix-Essen für Studierende und andere Bedürftige und dergleichen. Allerdings ist es meiner Erfahrung nach gar nicht so einfach, seine „wahre Motivation“ zu kennen und nicht nur scheinbar hehre Absichten vorzuschieben. Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass man manchmal mit weniger ein Segen sein kann, als man denkt. Auf unserem Sofa haben einige Gäste nach Eigenaussage gut geschlafen (vielleicht waren sie auch nur höflich 🙈) und manchmal konnte man auch trotz eines schnell zusammengewürfeltem Abendbrots herzliche Tischgemeinschaft erleben. Oftmals vermuten wir bei anderen auch mehr Ansprüche als nötig.

Auf der anderen Seite muss gerade ich es lernen, alte Phasen hinter mich zu lassen und mich auf die Dynamiken neuer Lebenskapitel und deren teils durchaus sinnvoller Konventionen einzulassen. So habe ich mich letztens schweren Herzens aus der einst so spannenden WhatsApp-Gruppe der SMD Münster verabschiedet. Und als meine alte Mitbewohnerin mich letztens fragte, ob ich noch Interesse an alten WG-Tassen hätte, war mir spätestens nach dem Betrachten des bunten Bildes sofort klar, wie ich zu antworten hatte. Ne, bei aller Liebe – genug ist genug.

Und passt euch nicht diesem Weltlauf an, sondern lasst euch in eurem Wesen verwandeln durch die Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist. – Römer 12,2

5 Kommentare zu „Warum ich noch alte Tassen im Schrank habe

  1. Mal wieder ein super Artikel, Sebastian: Mit Witz, Charme und Tiefsinn. Ich finde den Gedanken sehr wahr, dass wir auch mit kleinen Dingen anderen ein Segen sein können. Das habe ich schon oft von beiden Seiten erleben dürfen, als Schenkende und als Beschenkte.
    Wertvoll finde ich den Gedanken, dass wir uns immer wieder erinnern sollten, dass wir neben unserem Wohlstand vor allem eins ausbauen dürfen: Gottes Königreich. Amen.

    Schmunzeln musste ich als du geschrieben hast „Studenten* und andere Bedürftige“:-D

    *Ich denke (das ist meine Meinung), das Privileg zu haben Bildung zu erwerben, noch dazu in einem der reichsten Länder der Erde ist wahrlich alles andere als bedürftig. Solange ich Bett, Essen, Krankenversicherung und liebe Freunde habe, mir nichts weh tut, bin ich doch reich, oder? Wenn ich auf FB (selten) und IG (nie) unterwegs bin, könnte ich vielleicht anders denken. Aber wenn ich die Realität in den Nachrichten verfolge, kann ich Nichts als dankbar sein. Ich glaube aber, du hattest es eh anders gemeint…;-)

    Liebe Grüße aus Wien,
    Henni

    1. Liebe Henni,
      vielen Dank für dein freundliches Feedback! 🙂 Studenten als „Bedürftige“ war tatsächlich eher mit einem Augenzwinkern gemeint. Es wird dem Klischee nach den Studis ja nachgesagt, dass sie sich nicht so gut ums Essen kümmern und über jede Einladung dankbar bin. Bei mir war das damals tatsächlich manchmal der Fall, wenn auch nicht aus materieller Not geboren 😉
      Wir sind auf jeden Fall im weltweiten Vergleich sehr reich und privilegiert, absolut! Da hast du absolut recht. Wenn ich bei jedem meiner Posts jedoch den globalen Kontext mitdenken müsste, dann dürfte ich fast gar nichts mehr schreiben, weil fast alle meine Gedanken „first-world problems“ sind…
      Liebe Grüße aus Münster 🙂
      Sebastian

  2. Ein sehr schöner und inspirierender Artikel. Besonders die Frage, ob man jeder, für das Alter „entsprechenden“ Konvention nachgehen sollte finde ich spannend. Auch in Verbindung mit Paulus Worten zum Weltlauf.
    Lg

Ich freue mich sehr über jegliche Reaktion - egal ob kritisch, ermutigend oder ergänzend :)