Der Will Smith in mir

Für einige meiner (pubertären männlichen) Schüler ist er “ein Ehrenmann”, für die meisten eher ein schlechtes Vorbild und für die Kulturanalysten und Feuilletonschreiber ist Will Smiths rüde Aktion nur ein Paradebeispiel eines absurden Hollywood-Theaters. An Meinungen, Memes und Mokierungen über die wohl weitverbreiteste Backpfeife der letzten Jahrzehnte mangelt es nicht. Eigentlich möchte ich mich nicht am Celebrity-Gossip beteiligen, aber dieser Vorfall regte mich in seinen vielschichtigen Bedeutungsebenen doch zum Nachdenken an.

Moralisch aufgeladene Fälle wie dieser, wo es um „Ehre“, „Vorbild“ und „Anstand“ geht, laden gerne dazu ein, Schuldige zu bestimmen und Urteile zu fällen. Auch ich war nach dem ersten Anschauen der Szene gespannt, wie andere Menschen die Beteiligten einschätzen und einordnen und war bestrebt, mir „Klarheit“ in meiner Meinungsbildung zu verschaffen.

Nach einer kurzen „Recherche“ (danke, YouTube-Algorithmen 😉 ) war die Sache für mich relativ schnell klar. Der Haarwitz war zwar unangebracht, auch wenn das „roasting“ eine (Un-?)Sitte in der amerikanischen Comedykultur ist und Jada kurz vorher noch betonte, wie egal ihr die Meinung anderer Leute ist. Der “slap” und die darauffolgenden Beschimpfungen waren trotz Chris Rocks gewagten Vergleichs unnötig, unverhältnismäßig und auch ein wenig peinlich für alle Beteiligten (was dem ganzen aber auch eine etwas humorvolle Note verleiht).  Hat man sich einmal moralisch festgelegt und den „Buhmann“ bestimmt, ist es einfach, sich überlegen zu fühlen und flotte Witzchen zu machen.

Aber bei genauerem Betrachten sowohl der Szene als auch einiger Interviews aus der Vergangenheit weckte sich in mir der Eindruck, dass Will Smith trotz seiner Oscars, seines Geldes, seines Einflusses und seiner erfolgreichen Memoiren mit einigem zu kämpfen hat und in dem Moment an dem besagten Oscar-Abend vielleicht (ich spekuliere!) einiges kumuliert ist, was sich angestaut hat.

Ich möchte diesen Eindruck der Einfachheit halber nur an zwei Beispielen illustrieren, auch wenn der Fall natürlich komplexer ist.

Zum einen ist da ein persönliches Ehegespräch, was die beiden Smiths seltsamerweise vor laufender Kamera führten. Hier ein vierminütiger Ausschnitt davon:

Abgesehen davon, dass ich diese Auswüchse eines „authentischen“ öffentlichen Selbstoffenbarungskults, in dem man solche Intimitäten mit aller Welt teilt, (selbst als Blogger) für äußerst bizarr halte, sprechen die Gesichtsausdrücke Bände. Während Jada fröhlich-frei von ihrer Affäre (mit dem psychisch kranken 20-Jahre-jüngeren Freund des Sohnes) erzählt und diese als Teil ihrer „Selbstfindungsreise“ und der „Heilung“ einer verirrten Seele inszeniert, versucht Will durch Nicken und Lachen dem ganzen einen positiven Spin zu geben, aber so richtig überzeugt wirkt das nicht. Es scheint eher, als ob er versucht etwas zu glauben, was nicht so ganz in seine Vorstellung von Ehe passt.

Der zweite Moment ist die Oskarverleihung selbst. Hier die ominöse Szene:

Bei genauerem Hinschauen sieht man eindeutig, wie Will vor der Ohrfeige noch herzlich lacht (siehe Artikelbild oben) und erst zur Tat schreitet, nachdem er die Reaktion seiner Frau bemerkt. Was hat ihn wohl motiviert, derart zu reagieren, obwohl er sich zunächst amüsierte? Einige vermuten, er wollte im Hinblick auf die turbulente („offene“) Ehe seine Frau und die Beziehung verteidigen, seine (toxische?) Männlichkeit demonstrieren, sich rächen oder ähnliches. Andere vermuten schlicht eine plötzliche Affektreaktion. Die Vehemenz, mit der er 2x das „F-Wort“ betont, legt eine wie auch immer geartete Verletzung nahe, aber ganz genau werden wir es trotz oder auch wegen der zahlreichen Fernsehauftritte wohl nie wissen.

Solche hobbypsychologischen Analysen sind natürlich nur möglich, weil viel Videomaterial begutachtet werden kann. Da drängt sich mir die Frage auf: Würde es von mir so viel Videomaterial geben, was würden die anderen Schreibtischtäter an mir entdecken? 

Wenn ich ehrlich bin, sind meine Reaktionen und mein Auftreten auch nicht immer ganz kongruent mit dem, was wirklich in mir vorgeht. Wie oft habe ich schon über Witze gelacht, die ich eigentlich gar nicht verstanden oder für verletzend gehalten habe? Habe ich selbst nicht schon oft Gesprächspartnern verständnisvoll zugenickt, obwohl ich das Gesagte für seltsames Geschwurbel oder verzerrte Selbstwahrnehmung gehalten habe? Wie oft versuche ich (wie Jada) mir einzureden, dass mir die Meinung der Welt egal sein kann, aber wenn es drauf ankommt, dann grüble ich wieder viel zu viel. Wie oft versuche ich etwas zu “demonstrieren”, sei es als kompetenter Lehrer, als tapferer Mann oder als unerschrockener Christ?

Ich hoffe und glaube, dass mein Verlegenheitslachen über die Jahre etwas weniger geworden ist und ich reifer und aus einer sichereren Identität heraus handeln, lachen und reden kann.

Aber am Ende des Tages bleiben wir “broken people” – ob die Welt uns dabei zuschaut oder nicht. Jesus war zu allen Leuten straight und hat sich nie verstellt oder awkward gelacht. Aber wir menschliche Wesen in all unseren Unsicherheiten, Wunden und Sehnsüchten werden immer wieder neu um Authentizität ringen müssen. In diesem Bewusstsein können wir alle vielleicht etwas mehr Liebe für Will Smith und den Will in uns entwickeln.

Ein Kommentar zu „Der Will Smith in mir

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