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30 Jahre Wiedervereinigung und der Mangel an intensiven Gefühlen

Wir feiern 30 Jahre Wiedervereinigung. Yay… Wenn ich ehrlich bin, will ein Gefühl der Ekstase bei mir nicht so recht aufkommen. Wie denn auch, wenn er auf einem Samstag liegt und die Schule nicht ausfällt?

Okay, etwas ernster: Ich bin zwar dankbar für die friedliche Revolution und finde als Geschichtslehrer die Ereignisse vor, um und nach den Mauerfall faszinierend, dennoch spüre ich kein intensives patriotisches Glücksgefühl.

Vielleicht gab es hinten bei der Erleuchtung etwas Stimmung.

Das war schon letztes Jahr so, als ich (eher zufällig) zum 30-jährigen Mauerfalljubiläum in Berlin war und sogar versucht habe, bei den Feierlichkeiten dabei zu sein. Sehen und hören konnten wir aufgrund der Distanz fast nichts (siehe Bild), aber dafür liefen massenweise Menschen herum, die ähnlich wie wir sehen wollten „was so geht“. Es war ein „Happening„, aber dafür hätte es keine Mauerfallfeier gebraucht, ein paar Popstars oder eine Sportfeier hätten es wahrscheinlich auch getan. Die Lichtshows am Alex waren aber ganz nett.

Ich bin als 1990er-Kind im vereinten Deutschland groß geworden, kannte aus meinem Erleben nie was anderes. Ersehnt oder erkämpft habe ich die Wiedervereinigung nie. Sie war einfach da. 1989/90 war keine Zäsur für mich, so stellen sich auch heute keine intensiven Gefühle ein.

Nun steht das 30-jährige Wiedervereinigungsjubiläum an. Dazu las ich ein aufschlussreiches Interview mit unserem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck in der FAZ. Eine Stelle sprach mich besonders an (Hervorhebungen von mir).

Joachim Gauck © Jens Gyarmaty

FAZ: Was war gut an der DDR?
Gauck: Gut war das, was die Führung der DDR nicht wollte. Es war gut, dass Menschen sich auf eine Weise verbündet haben, wie sie es in freien Gesellschaften nicht nötig haben. Dass sie einander materiell, aber vor allen Dingen ideell beistehen mussten, dass so etwas wie eine Gegenkultur der Unterdrückten gewachsen ist. Das haben wir gespürt in unseren Kirchgemeinden, in alternativen Jugend- und Musikgruppen, in Freundeskreisen oder parteifernen Nachbarschaftszirkeln. All das war nicht DDR-Sozialismus, all das war das Ringen um Autonomie, um geistige Freiheit, um den Erhalt der Würde der einzelnen Unterdrückten. […]. Aber das eigentlich Merkwürdige oder Anrührende ist, dass selbst bei Menschen wie mir, der ich der DDR keine Träne nachweine, mitunter ein ganz unpolitisches Gefühl des Abschieds oder einer irgendwie kaum erklärbaren Traurigkeit entsteht. Ich habe mich gefragt, das passt doch gar nicht zu deinem politischen Denken. Kann ich denn vermissen, was mich unterdrückt hat? Nein, das kann ich nicht. Aber in dieser Zeit der Unterdrückung haben Menschen ihre kleinen Gegenwelten zur Unterdrückung gesucht und gebaut, und dann ist vielfach eine Wärme und eine Intensität des Miteinanders entstanden, die die Kälte der Diktatur erträglich machten. Diese Nähe und Intensität gab es dann später so nicht mehr.

Ist diese Gemeinschaft zerbrochen mit dem Ende der DDR?
Ja, so etwas endet jedenfalls. Eine Notgemeinschaft ist außerhalb der Not nicht mehr wichtig. Ganz merkwürdige Dinge geschehen dann: Du gehst in ein Konzert oder in einen Gottesdienst in einem frei gewordenen Land, und plötzlich ist die alte Intensität der Verbundenheit gar nicht mehr da. Eben war es noch ganz tief gefühlt: Wir gegen die da, und wir bleiben bei unserer Wahrheit, und wir stehen dazu, und etwas in uns, ganz Zentrales ist in Bewegung, ist wachgeküsst, es muss sich behaupten. Und nun in der Freiheit bist du plötzlich in diesem großen weiten Raum, wo alles möglich ist – ja wo ist denn diese Intensität? […]

Link zum Interview

Diese Beschreibungen leuchteten mir sofort ein. Der gemeinsame Freiheitskampf, die zwischenmenschliche Nähe in kleinen Gruppen – das schweißt zusammen. Wenn jedoch für nichts mehr gekämpft werden muss, ein großes Ziel erreicht wurde und die Gewöhnlichkeit des Alltags eintritt, schwindet das Gefühl von Gemeinschaft und „Leben“.

In stark abgeschwächter Form habe ich die Gegensätzlichkeit von intensivem Erlebnis und Alltagsgrau schon recht häufig erlebt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie beseelt ich früher von christlichen Freizeiten, spannenden Auslandsaufenthalten oder auch erst kürzlich von einer Studienfahrt mit meinem lieben und lustigen Jahrgang gekommen bin. Es schien mir gerade in jungen Jahren oft so, als wüsste ich nun, wofür ich eigentlich hier auf der Erde bin, wie mein Leben jetzt ganz anders werden würde, wie wichtig es doch ist, „das Leben zu leben“ und wie schön und wohltuend enge und herzliche Gemeinschaft ist.

Doch als ich von der besagten Studienfahrt wiederkam, musste ich plötzlich den gleichen Schüler/innen, mit denen ich erst vor ein paar Tagen in einem Bergsee schwimmen war und Lagerfeuerlobpreis gemacht habe, die Analyse von fiktionalen Texten beibringen. Das war irgendwie ein schwieriger Stimmungs- und Moduswechsel. Es scheint, als gehe das Leben immer weiter und die Erlebnisse verpuffen einfach.

Manchmal frage ich mich, ob ich zu wenig erlebe. Ob ich weniger grübeln und schreiben sollte und stattdessen… ja was eigentlich? Eine Reise buchen? Wofür genau? Etwas „Verrücktes“ machen? Für eine „große Sache“ kämpfen? Aber wofür genau? Ja ich weiß, es gibt tausend Möglichkeit und nochmal mehr Probleme, die es anzupacken gilt. Gemeinde, Bildung, Armut, Klima, mentale Gesundheit, Jugendarbeit.

Aber allein auserlebnistheoretischer“ (und damit auch egoistischer) Sicht sind all diese Kämpfe nicht allzu fruchtbar. Selbst wenn FFF alle ihre Ziele durchsetzen, wird nicht plötzlich ein besonderes Ereignis wie ein Mauerfall ein bestätigendes Glücksgefühl hervorrufen. Die Arbeit mit Menschen, egal wer sie sind und in welchen Lagen sie stecken, ist oft mühsam und langsam. Selbst Jesus als Sohn Gottes hat einen recht nüchternen Blick auf die Erfolgsaussichten der Armutsbekämpfung: „Die Armen habt ihr allezeit bei euch.“ (Joh 12,8).

In dieser Hinsicht sind die Freiheitskämpfer um 1989 zu beneiden: Sie kämpften gegen einen Unrechtsstaat und für große Ideale wie Freiheit und Selbstbestimmung, deren tatsächliche Erfüllung sie erreichen, erleben, spüren und feiern konnten (von einigen Nebenwirkungen & Schwierigkeiten in den Folgejahren mal abgesehen). Ich behaupte mal, dass heutzutage das Gemeinschaftsgefühl in den modernen „Gegenwelten“, um Gaucks Begriff aufzugreifen, nämlich den Online-Gruppen, die für und offenbar noch häufiger gegen etwas eintreten, nicht so schön, intensiv und ich will schon fast sagen „pur“ ist wie damals.

Aber vielleicht idealisiere ich auch nur. Also zurück nach 2020 – was soll ich nun tun, um „eine Wärme und Intensität des Miteinanders“, wie Gauck es so schön beschreibt, heutzutage zu erleben?

Es ist schwierig, darauf eine Antwort zu geben, ohne in Kalenderspruch-Plattitüden zu verfallen. Dessen ungeachtet bin ich überzeugt, dass wir tatsächlich den ganz normalen Alltag „in dem weiten Raum“, der uns zur Verfügung steht, ganz bewusst und sogar intensiv nutzen können:

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen Feiertag, auch wenn er wohl eher geruhsam als intensiv ausfallen wird. Vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht, mit der Geruhsamkeit, denn es kann (muss aber nicht) ein Zeichen von  guten, sprich nicht unterdrückerischen oder dramatischen, Zuständen sein. Hoffen wir also auf 30 weitere Jahre Frieden und Einheit. 🙂

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