Redet doch miteinander!

Eine der Segnungen dieser Osterferien war für mich, mal wieder Zeit dafür zu haben, ein „richtig gutes Buch zu lesen“ – kein pragmatisches-belehrendes Sachbuch, sondern ein langer Roman, der einen mitreißt und die nüchterne Realität vergessen lässt. Eine Sache, die mich beim Lesen immer wieder fasziniert, ist das Zusammenspiel von Aktion und Reaktion, von Gespräch und Reflexion. Kein Film kann so so eindringlich und so andauernd Einblicke in die Gedankenwelt eines Charakters geben wie gute Romane. 

Während ich in den letzten Tagen auf diese Weise in das relativ deprimierende Leben und Fühlen einer in den USA lebenden problembeladenen indischen Familie (The Lowland) hineingenommen wurde, wurde trotz der einnehmenden Story mein pragmatisch-belehrender Geist geweckt. Nachdem ich in die Gedankenwelten der Charaktere eingetaucht bin und nach und nach verstanden habe, wie sie ticken, was ihre Probleme sind und wie sie über die anderen Mitmenschen denken und nachdem ich zunehmend von der Dysfunktionalität der Familie frustriert war, konnte ich nicht anders, als den Charakteren laut zuzurufen: „HALLO! REDET MITEINANDER! TEILT EUCH MIT!“ Ein Großteil der Schwierigkeiten, die dieses Buch antreiben, hätten vermieden werden können, wenn die Menschen sich einfach offen ausgetauscht hätten. Stattdessen verschweigt ein Ehepaar einen schrecklichen Vorfall über Jahre; die Schwiegertochter wird einfach weitestgehend ignoriert; ein zurückhaltender Mann schafft es bis ins hohe Alter nicht, unbequeme Dinge anzusprechen. All dieses und viel mehr führt in dem Roman zu einer Eskalation von Unzufriedenheit, Stillstand und Zerrissenheit. 

Nun mag ein Teil der Verschwiegenheit im Roman kulturell bedingt sein, vielleicht wird in traditionelleren Kulturen aus Scham oder Vorsicht nicht alles offen angesprochen. Womöglich tendieren Romane als Medium auch dazu, eher introvertierte Personen als Protagonisten zu haben, denn in der Spannung zwischen einer tiefsinnigen Gedankenwelt und eher wenigen Gesprächen liegt häufig ein besonderer literarischer Reiz. Überaus redselige und klar-kommunizierende Hauptcharaktere sind mir in Büchern selten begegnet.

Aber dennoch bin ich überzeugt, dass offene Kommunikation so manches Drama in dem Roman und generell im Leben präventiv verhindert hätte. So heimelig und tiefsinnig es sich manchmal in der ganz eigenen Welt von Gedanken und Emotionen anfühlt, so wenig hilfreich ist es für die Außenwelt, wenn wir uns darin verlieren und es nicht für nötig halten, einen Teil von uns zu offenbaren. Wie soll jemand anders andocken, wie soll er uns verstehen, wie wollen wir uns aufeinander zubewegen, wenn wir uns verschließen?

Doch der Offenbarung der eigenen Gedanken sind natürlich Grenzen gesetzt. Als ich Luise beim Frühstück von meiner Frustration mit der mangelnden Transparenz der Charaktere erzählte, fragte sie mich, ob ich ihr denn alle meine Gedanken mitteile. Das scheint mir nicht möglich – zu flüchtig, konfus-komplex und leider oft zu negativ ist das, was sich in meinem Kopf abspielt. Ein gewisses Maß an Feingefühl für das Gegenüber und das, was er oder sie gerade aufnehmen kann und ein Gespür für das Timing der Situation und für die Ergiebigkeit des Gedankens ist durchaus angebracht. Wenn wir beständig ein Gedankenprotokoll verteilen würden, würden wir unsere Lieben wohl oft eher verärgern und verstören. Wenn ich die westliche, digitale und teils auch therapeutische Obsession mit einer Form von Authentizität, in der man seine banalen, komplizierten und teils auch intimsten Gedanken preisgibt, beobachte, dann empfinde ich sogar einen gewissen Respekt für die würdevolle Dezenz, mit der gerade in eher traditionellen Kulturen (ich generalisiere) manche Themen gar nicht oder eher indirekt und mit vorgehaltener Hand ans Tageslicht kommen. Wenn diese Zurückhaltung jedoch Beziehungen (zer)stört und Menschen unverstanden und isoliert zurücklässt, dann ist sie eher schädlich. 

Es muss also einen gewissen Mittelweg geben zwischen Kommunikationsvermeidung (oder -verweigerung) und Seelenstriptease. Je nach Persönlichkeit, Reife und eigenem Wertekanon wird dieser Mittelweg bei jedem anders aussehen. Ein guter Test, ob man kommunikativ auf dem richtigen Weg ist, scheint mir ein Gedankenexperiment zu sein, was ans eingangs erwähnte Buchlesen anknüpft: Wie würde wohl ein fähiger Autor mich als Romanfigur darstellen? Nehmen wir an, er kennt mich perfekt und möchte meinen Charakter im Roman treffend und akzentuiert beschreiben.

  • Würden die Gedanken in einem passenden Verhältnis zum Reden und Handeln stehen, sodass ein rundes, nachvollziehbares Bild beim Leser entsteht? 
  • Würde die Kluft zwischen dem, was ich insgeheim denke, liebe, hoffe, befürchte und dem wenigen, was ich tatsächlich äußere, beim Leser Frustration oder gar Mitleid hervorrufen, weil ich einfach nicht aus dem Quark komme und anderen Charakteren mit meiner Sprachlosigkeit das Leben unnötig schwer mache? 
  • Würden viele meiner Aussagen gegenüber anderen angesichts meines wahren Innenlebens arg heuchlerisch, verzerrt oder unbeholfen rüberkommen? 

Aber auch mit diesen Testfragen ist es schwer, „die perfekte Kongruenz“ zwischen Denken und Reden auszumachen – auch wenn einige Lebensweisheitmemes suggerieren, es wäre doch so einfach:

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Die knackigen Schlussfolgerungen des Memes klingen erstmal gut und plausibel und fassen mein Anliegen in diesem Artikel gut zusammen (praktisch für diejenigen, die nicht gerne meine lange Texte lesen ;)). Aber warum leben und reden wir nicht einfach so? 

Wenn ich in mich hineinhorche, merke ich, dass meine Sprachlosigkeit gerade bei schwierigen Themen oder Anliegen oft mit Scham und Faulheit zusammenhängen. Scham kommt oft da ins Spiel, wo ich lieber heile Welt spielen will und mit Lächeln und Charme alles verdecken will, was schmutzig, schwierig und schwer in mir ist. Faulheit hingegen, so trivial es klingt, führt dazu, dass ich lieber Smalltalk-Geplänkel oder Allgemeinplätze wie „Ich bin beschäftigt“, „Der Tag war okay“ oder „Corona nervt“ von mir gebe, statt die kognitive und emotionale Investition zu machen, darzulegen, was mich gerade wirklich beschäftigt, seien es eigene Sorgen, Erwartungen an andere, Enttäuschungen vom Leben oder was auch immer. Das ist auch manchmal okay, gerade wenn man zu müde und kaputt zum Reden ist; Kommunikationsverweigerung aus Bequemlichkeit sollte aber keine Gewohnheit werden.

Was kann helfen, Redescham und -trägheit zu überwinden? Neben Vorsätzen, viel Übung und guten Beispielen aus der Umgebung hilft mir besonders das Bewusstsein, dass der Autor aus dem Gedankenexperiment ja tatsächlich existieren könnte, in Form eines allwissenden und gleichzeitig liebevollen Gott. Wenn jemand meine Gedanken ohnehin schon kennt, muss ich sie vor lauter Scham und Stolz auch nicht verstecken sondern kann sie Ihm frei nennen und bekennen. Und weil ich mich vom „Autoren“ geliebt und angenommen weiß, kann ich viel mehr produktiv mit meinen Gedanken arbeiten und sie dann teilen, wenn es für Andere hilfreich, aufschlussreich und ergiebig sein könnte. 

4 Kommentare zu „Redet doch miteinander!

  1. Hallo Sebastian,
    ein sehr schöner Artikel! Ich habe mir rückblickend auch schon häufiger im echten Leben gedacht, wieso manche Leute (oder man selbst) nicht direkt einfach offen über ein Thema sprechen konnte, anstatt es zu verschweigen.
    Interessante Gedanken und ein schöner Übergang zu unserem Gott 😊.

    Liebe Grüße

    Philip

    1. Danke dir lieber Philip! Ja die Gründe dafür sind vielfältig, ich konnte sie nur anreißen. Ich bin wirklich überzeugt, dass es sich langfristig lohnt, offen und ehrlich zu reden, statt alles zu verbergen – nicht nur für die Mitmenschen, auch für sich selbst. Schön, dass wir das ein Stückweit auch im Hauskreis machen können 🙂 Bis dahin alles Gute und liebe Grüße 🙂

  2. Hallo lieber Sebastian 😊

    passend zu deinem Blogbeitrag will ich mich für deine Offenheit im ehrlichen Teilen deiner Gedankengänge bedanken.
    Ich sitze gerade im Zug und genieße, wie du in den Ferien deinen Roman, deinen Artikel zu lesen und darüber nachzudenken. Es stimmt, dass man leider so wenig Zeit für sowas hat, aber umso schöner ist es, wenn man dann mal ein gutes Buch o. Ä lesen kann.

    Ich habe mehrere Gedanken und auch Fragen zu einigen Punkten, die du beschrieben hast und werde die einfach mal hier chronologisch deinem Text entsprechend, aufführen:

    Als erstes will ich sagen, dass ich deine verzweifelten Ausrufe an die Buchcharaktere zu 100% verstehen, nachvollziehen und fühlen kann. Bei welchem Film oder Buch sitze ich da nicht und bin am Ausrasten, weil die Lösung für das dargestellte Problem doch nur eine offene, ehrliche Konversation weit entfernt wäre (habe vor einiger Zeit mal entschieden mir keine Filme, die mich mehr aufregen, als dass sie mich unterhalten, weiterbringen oder berühren, mehr anzugucken).
    Oft habe ich mich daraufhin aber auch gefragt ob wir Menschen denn überhaupt ‚befriedigt‘ wären, wenn man uns eine einwandfreie Geschichte auftischen würde, in der Probleme gar nicht erst auftreten, da die Charaktere bereits in jeglicher Hinsicht ausgereift sind, Dinge sofort ansprechen, sich offen und ehrlich mitteilen usw.. Ich frag mich ob uns das zu langweilig wäre, da das Abenteuer und die Reibung, die zarte Chilinote im Essen fehlen würde. Und lernt man mehr indem man ein gutes Beispiel vorgezeigt bekommt oder eher wenn man falsches, unweises und dummes Verhalten fast plakativ vor die Nase gerieben bekommt?
    Und dazu fällt mir noch eine spannende Frage an dich ein: Wenn du ein Buch schreiben würdest, einen Roman, eine Geschichte, wie wäre dann dein Protagonist? Wie würdest du die einzelnen Charaktere wählen? Würden sie alle logisch handeln und super miteinander kommunizieren? Wie würdest du das darstellen, was du dem Leser mitgeben wollen würdest?

    Ich will auch nochmal auf den von dir kurz angeschnittenen Aspekt der kulturellen Bedingtheit eingehen.
    Wie du ja weißt, bin ich in zwei Kulturen groß geworden: der deutschen, sowie der kolumbianischen. Zwei in vielerlei Hinsicht ziemlich gegensätzliche Kulturen wie ich finde. Eine, die mich, etwas überspitzt gesagt, mit ihrer oft unsensiblen Direktheit vor den Kopf stößt und die andere, die lieber ihr ganzes Leben lang in Diskretion verbringt, als nur einmal Jemanden auch nur ansatzweise vor den Kopf stoßen.
    Wenn ich also Geschichten lese, sehe oder höre, in denen verschiedene oder besonders südländische Kulturen eine Rolle spielen und sie sich in für uns unnötigen Konflikten verfangen, dann vernehme ich natürlich zuerst innerliche Agitation, aber meist stellt sich bei mir danach eher Trauer, Mitleid und Verständnis ein, da ich selbst sehr nah, durch die Familiengeschichte meiner Mama, mit den Folgen von Scham, Stolz und dementsprechend mangelnder oder nicht existenter Kommunikation vertraut bin. Und wenn sich auch schon vieles weiterentwickelt hat, sehe ich doch noch sehr deutlich in meinen gleichaltrigen kolumbianischen Cousinen und Cousins das Band oder fast Gefängnis könnte man sagen, welches sich kulturell und geschichtlich noch immer um sie legt.

    Ich glaube jede Kultur/jedes Land hat etwas, was sie sehr geprägt hat und deswegen in gewisser Weise gefangen hält, und jeder hat die Verantwortung, besonders als Kinder Gottes, die wir alle geistliche Autorität innehaben, uns davon freizusprechen und kulturelle, sowie generationale Prägungen bis hinzu Flüchen in Jesus zu binden und zu brechen, damit wir nämlich überhaupt im Stande sind gute Kommunikation zu führen. Manche Menschen wissen nämlich überhaupt nicht, dass es sowas gibt, offene, ehrliche, schamfreie Gespräche zu führen und das zerbricht mir innerlich mein Herz.

    Wenn man nun also vom Fiktiven ins Realistische wechselt, finde ich, sollte man vielmehr noch als Menschen einfach zu sagen: „ach, ihr müsst doch einfach nur miteinander reden 🙄, das ist doch nicht so schwer“, genauer horchen und fühlen wieso Menschen so handeln wie sie handeln. Wenn man nicht in deren Haut steckt, ihre Prägung, ihre Kultur mitbekommen hat, dann kann man alles so leicht sagen, aber wenn man fühlen würde was sie fühlen, hätte man auch nicht so leicht reden(das soll jetzt kein Vorwurf sein). Das rechtfertigt ihr Verhalten nicht, jedoch wollte ich nur auch mal die andere Perspektive beleuchten und das Potenzial aufzeigen, was wir mit diesem Wissen und mit Jesus haben, Menschen aus ihren innerlichen Gefängnissen herauszuhelfen, seien diese jetzt kulturell, familiär oder persönlich bedingt.
    Dementsprechend hat das meme zwar kurz und schmerzlos dargestellt wie es laufen muss, bis es jedoch so läuft, ist es aber teilweise ein sehr schmerzvoller Weg.

    Mich hält meist nicht meine eigene Scham und Faulheit von Kommunikation auf, sondern eher das Wissen oder wahrscheinlich auch die Angst, dass der andere sich vor den Kopf gestoßen fühlen wird oder nicht so offen und verständnisvoll damit umgehen wird und sich vielleicht sogar ganz zurückziehen wird, anstatt sich auf das Problen einzulassen, Stolz loszulassen und die Dinge anzugehen. In diesem Punkt habe ich z B in den letzten Monaten noch eine Unfreiheit, ein ‚Gefängnis‘ wie ich es zuvor genannt habe, bemerkt, was ich jetzt angehen darf 🙂

    Gott, der Autor unseres Buches, ist, genau wie du es beschrieben hast, derjenige, der mich dazu ermutigt, befreit und befähigt überhaupt gute Kommunikation zu führen, weil er meine Gedanken, meine Geschichte kennt, sogar soviel besser als ich, deswegen danke für die Erinnerung und Ermutigung!

    In diesem Sinne ganz schöne, gesegnete Ferien wünsche ich noch, mit vielen Begegnungen in der fiktiven, sowie realen Welt und den damit verbundenen neuen Erkenntnissen, Weisheiten und Gedanken über Gott, die Menschen und die Welt, an denen du uns wiederum gerne auf diesem Blog teilhaben lassen kannst 😊🙌

    Valli

    1. Liebe Valli,

      ganz vielen Dank für diese sehr wichtige und hilfreiche persönliche Perspektive!

      Ich bin oft hin- und hergerissen, wie lang meine Artikel sein sollen. Ich weiß einerseits um die kurze Aufmerksamkeitsspanne im Internet, andererseits ermutigen mich Kommentare wie deiner, Themen in der gebotenen Tiefe zu behandeln. Mir ist bewusst, dass ich viele Punkte nur gestreift habe und es z.B. noch viele andere Gründe für eine gewisse „Sprachlosigkeit“ gibt, aber ich wollte den Artikel nicht sprengen. Daher freue ich mich umso mehr, dass du so wertvolle und differenzierte Ergänzungen vorgenommen hast!

      Ich glaube genau wie du, dass „einwandfreie Geschichten“ in Filmen und Büchern wenig Reiz bieten. Gute Geschichten leben von Konflikten, seien es äußere oder innere. Es gibt jedoch ein ganz paar Filme, die sich in zarter Alltagsbeschreibung (ohne allzu viel Drama) versuchen, so z.B. „Boyhood“ oder „Another Year“, solche langsamen Filme sind aber wahrlich nicht massentauglich… Ich denke man kann sowohl von Positiv- als auch von Negativbeispielen lernen, das Buch der Sprüche ist z.B. voll mit beidem („Ich sah den Faulen“, „Siehe, eine tugendhafte Frau…“)

      Ich denke auch, dass wir als Christen in unsere Kulturen hineinwirken können und liebevoll blind spots aufdecken und Akzente in Richtung Freiheit, Vergebung, Liebe etc. setzen sollten, auch wenn solch ein Weg schmerzvoll und schwierig ist. Mir geht es auch wie dir, dass ich tatsächlich oft aus Vorsicht und Rücksichtnahme zu viel anspreche. Der Fokus dieses Artikels lag jedoch mehr im „sich-sich-selbst-mitteilen“…

      Ich musste bei all dem nochmal an den Artikel denken, den wir mal im Englischunterricht bearbeitet haben, „The Dragon & the Rooster“, erinnerst du dich? http://heiditai.com/2019/05/20/the-dragon-the-rooster/ Besonders dieser Abschnitt beschreibt ganz gut die Macht des „kulturellen Vokabulars“ und auch der Einfluss der Prägungen von älteren Generationen:
      „Although my dad had loved and cared for his mother his whole life, he had to wait 37 years before he heard his first ‘Thank You’. After her passing, he had to accept that he would never hear ‘I’m sorry’ or ‘I love you’. As I hugged my dad, I was filled with gratitude knowing that he was already going to great lengths to share words of love and healing, even when they didn’t exist in his cultural vocabulary.“

      Vielen Dank nochmal fürs Mit- und Weiterdenken und sei gesegnet 🙂
      Sebastian

Ich freue mich sehr über jegliche Reaktion - egal ob kritisch, ermutigend oder ergänzend :)