Wenn ich nach meinem Wohlergehen gefragt werde, teile ich oft etwas aus den typischen Lebensbereichen wie Beruf, Freizeit, Gesundheit und dergleichen. Doch was ich oft unerwähnt lasse, obwohl es meinen Alltag nicht nur zutiefst prägt, sondern auch unglaublich bereichert, ist das Leben mit unserem Sohn Silas. Natürlich geht es auch um ihn, wenn ich nach dem Familienalltag, dem Stresslevel, der Aufteilung der Sorgearbeit, unseren Nächten usw. gefragt werde. Aber selbst bei solchen Gesprächen geht es oft eher darum, wie unser Kleiner das eigene Leben beeinflusst, welche Anschaffungen noch nötig sind, wie man Ernährung, Betreuung und Schlafen handhabt und lauter weitere praktische Fragen. Worum es oft nicht geht ist das Baby selbst: wie er ist, wie und wann er lacht und weint, welche Persönlichkeit sichtbar wird und welche Wirkung er entfaltet. Es ist fast schon etwas merkwürdig, wie routinemäßig wir uns über Babies unterhalten und wie schnell wir das Leben dieser wundersamen Wesen an unsere Erwachsenenlogik anpassen und analytisch, sachlich und manchmal auch sarkastisch über Kinder sprechen, als ob sie nur ein weiteres Projekt in unserem Trello-Board (oder sonstiger ToDo-App) sind.
Möglicherweise liegt es auch daran, dass wir uns kulturell-bedingt gerade als Männer etwas schämen, zu viel Begeisterung zu zeigen oder überhaupt erst zuzulassen. Vielleicht sind auch wir sensibel und wollen mit unserer Begeisterung niemanden vor dem Kopf stoßen. Das mag alles sein, aber es muss doch einen Raum dafür geben, die Freude darüber zu teilen, jeden Tag zu beobachten, wie ein kleiner Mensch wächst und mit großen Augen und offenem Mund die Welt erkundet.
Gerade die letzten Wochen und Monate war ich so verzückt vom Erleben dieses Babydaseins, dass es fast schon etwas unehrlich wäre, auf diesem persönlichen Blog über Politik, Gesellschaft, Schule und alles mögliche zu schreiben, nur nicht über das, was mich eigentlich aktuell am meisten packt.
Ein Punkt, der mich in Punkto Elternsein dabei besonders bewegt hat und der glaube ich auch eine Lektion für uns bereit hält (dazu später mehr), ist der Entdeckergeist von Babies.
Ein mediales Vorwort zum Teilen von Babymaterial: Es gibt mittlerweile zahlreiche Bilder und Videos von unserem Kleinen, die in Bild und Ton Gefühle und Begeisterung besser transportieren als Worte es tun können, aber aus verständlichen Gründen sollte ich nicht öffentlich zu viele Babybilder teilen – zumindest Frontalaufnahmen versuche ich zu vermeiden. Daher muss ich das schwierige Unterfangen versuchen, etwas in Worten zu beschreiben, was visuell doch viel eindrücklicher ist.
Der Entdeckergeist drückt sich bei Silas aktuell vor allem in seinem Bewegungsdrang aus: zur Zeit ist er mit seinen 11 ½ Monaten ständig in Bewegung. Das Wickeln ist eine große Herausforderung, weil er sich andauernd umdreht und loskrabbeln will. Eine Zeit lang haben Ablenkungen wie eine Haarbürste geholfen, die er fasziniert angeschaut und in den Mund gestopft hat, aber mittlerweile reicht auch das nur noch selten. Wenn es etwas Großes gibt – eine Treppe, ein Stuhl, ein Tisch – will er sofort hinauf, selbst wenn es nur auf Zehnspitzen ist.
Letzte Woche haben wir eine mehrtägige Radtour an der Weser gewagt und wir waren uns vorher nicht sicher, ob es ihm im Radanhänger nicht zu langweilig und statisch wird. Aber es lief besser als gedacht: er hat – wenn er nicht geschlafen hat – oft aus dem Fenster geschaut, die vielen Eindrücke verarbeitet und vor sich hingebrabbelt.
Wenn wir ihn in die Freiheit entlassen haben, ist er sofort losgezogen und hat sich vergnügt an Blumen, am Gras, auf Schaukeln, an Ästen und allerlei Objekten, die er inspizieren musste. Oftmals schien er sich schon daran zu freuen, sich einfach zu bewegen, egal ob auf hartem Asphalt oder weichem Gras.

Eine süße Szene zeigt, wie er sich an einem Rastplatz an einem Hund freut und sich ihm zaghaft nähert:
Hinter all dem, was ich im letzten Absatz geschrieben und an Erinnerungen geteilt habe, steckt der unbändige Wille, die Welt zu entdecken. Er scheint nichts langweilig zu finden und erfreut sich an Tieren, Treppen, Tupperdosen, Tischkanten und allem, was nicht niet- und nagelfest ist. Manchmal studiert er ein Objekt für ein paar Minuten, dann lässt er los und krabbelt fokussiert auf etwas Neues (oder auch Altes) zu, was er unbedingt erfassen und ergreifen muss. Besonders herzerwärmend ist das Quieken und Lachen wenn er etwas besonders spannend findet.
Natürlich ist auch immer wieder Weinen dabei und Baby-Stimmungen kippen erstaunlich schnell – ich will hier kein Idealbild eines glücklichen Kinderlebens zeichnen, wohl aber möchte ich deutlich machen, dass dieser Entdeckergeist etwas Besonderes und Kostbares ist – gerade auch weil er im zunehmenden Alter allmählich verloren zu gehen scheint. Wenn ich in der Schule bin, schaue ich leider oft in relativ apathische Gesichter. Selbst wenn man den großen Animateur spielt und im Unterrichtseinstieg schockieren, begeistern oder mitnehmen will, kann ich gerade den älteren Schülern oft nur maximal ein müdes Lächeln entlocken. Oft ist der Blick aufs iPad gerichtet und manche sind so müde, gelangweilt, traurig oder genervt, dass die babyhafte Begeisterung, die auch sie einst hatten, ganz, ganz weit weg zu sein scheint. Bei Erwachsenen auf der Straße oder in der Stadt sieht es nicht viel besser aus, da quiekt, lacht und staunt fast keiner mehr.
Doch warum ist das so?
- Ist es das System Schule, welches jeden Funken Enthusiasmus, Neugierde und Lebhaftigkeit im Keim erstickt?
- Ist es gleich das ganz kapitalistische und konsum- und konkurrenzorientierte Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, welches Kindern und Erwachsenen die Freude raubt?
- Ist es die digitale Technik, die uns abstumpfen lässt?
- Ist es der Weltschmerz und das Krisenbewusstsein, welches unschuldige kindliche Begeisterung unmöglich macht?
- Machen biographische Einschnitte und persönliche Enttäuschungen eine Freude am Entdecken und Wachsen nicht unwahrscheinlich?
- Ist es entwicklungspsychologisch nicht sowieso unvermeidlich, dass wir uns mit zunehmendem Alter gefilterter, vorsichtiger, verantwortlicher und sensibler verhalten und kindliche Emotionen zurücklassen?
Ich glaube tatsächlich, dass die genannten Punkte die Entdeckerfreude teils massiv hemmen können. Ich würde jeden einzelnen dieser Faktoren gerne näher ausführen und entsprechende Einschätzungen und Tipps zum Erhalt von Entdeckerenthusiasmus geben, aber auch wenn mein Blog theoretisch keine Textbegrenzung hat, sollte ich mich wahrscheinlich aus Gründen der Lesbarkeit beschränken.
Daher will ich dich und auch mich selbst fragen, ob da nicht – auch unter Berücksichtigung der angeführten Hemmnisse – doch ein bisschen mehr geht:
- Wir müssen nicht wie ein Baby laut im Restaurant quieken, aber dürfen wir nicht auch mal herzhaft lachen, wenn uns danach ist?
- Wir müssen nicht auf allen Vieren und mit geöffnetem Mund durch die Welt tapsen, aber können wir uns nicht ein bisschen mehr bewegen und dabei die Augen ab und zu auf unsere Umgebung und mögliche Begegnungen richten?
- Wir müssen nicht jeden Stein und sonstige Objekt in den Mund nehmen, aber können wir uns nicht an der Textur und am Geschmack vom Essen freuen, ohne es posten zu müssen und ohne uns mit Vergleichen und kulturellem Essensjargon abheben zu wollen?
- Wir müssen nicht alles an der Schule oder auf der Arbeit spannend finden, aber können wir bitte diese statusgeprägte Coolness ablegen, welche Neugierde so uncool und unwahrscheinlich macht?
- Wir müssen nicht die Augen vor dem Schmerz in der Welt verschließen, aber können wir nicht auch mal zumindest temporär ein wenig selbstvergessener sein und ganz im Hier und Jetzt und nicht gedanklich in den Staaten, in China oder sonstwo sein?
- Wir sollten nicht jede Emotion und jedes Wort wie ein Kind ungefiltert raushauen; es gibt einen Raum für Takt und Sensibilität, aber wir sollten uns auch nicht ständig unterdrücken und kaputtfiltern.
- Warum kann ich jemanden nicht sagen, wenn ich etwas an ihm/ihr entdecke, was ich mag oder cool finde?
Ich glaube als Jesus sagte, „werdet wie die Kinder“ (Mt 18,3), meinte er nicht nur das Urvertrauen eines Kindes, welches seinem Vater quasi blind in die Arme springt. „Glaube nur wie ein Kind und mach es nicht so kompliziert“. So ähnlich habe ich diesen Vers oft gedeutet bekommen. Vielleicht meinte Jesus mehr als das, vielleicht ging es ihm auch um diese ansteckende Freude und diesen unbändigen kindlichen Willen, sich bewegen, etwas erleben und Gott, Mensch und Natur fassen zu wollen und keine Scheu vorm Staunen zu haben. Wahrscheinlich haben die Menschen das schon vor 2000 Jahren verlernt, denn auch ohne Technik und Kapitalismus neigen wir dazu, diesen kostbaren Schatz der Kindheit zu verlieren; zu schwer und auch zu selbstzentriert ist das Leben oft.
Aber je länger ich Vater bin, merke ich, wie kostbar er ist und wie sehr ich ihn für mich und andere heben möchte. Auch wenn die Entdeckerphase in den Babyratgebern nur eine gewöhnliche Phase von vielen ist, will ich diese geöffneten Augen und das Leben auf den Zehenspitzen nicht ganz verlieren.
On your tiptoes always reaching
For something bigger than you are
It’s holding you and knowing
That I’ve caught a shooting starI know it won’t always be like this
Eyes are open, I don’t wanna miss
These ordinary days
These ordinary days
In a million little ways
You make me wanna stay
In these ordinary days
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