Eine brisante Frage
„Können Jungs und Mädchen einfach Freunde sein?“ Wer eine gemütliche Gesprächsrunde am Lagerfeuer etwas anheizen will, der kann diese Frage einwerfen. Schnell werden Anekdoten, Warnungen und Weltanschauungen ausgetauscht:
- „Also bei meinem Kumpel Sven hat sich doch jemand verliebt…“
- „Ja, klar, warum nicht? Ich kenne jemanden, der…“
- „Also ich glaube bei der Unterschiedlichkeit von Mann und Frau kann das nicht gut gehen, denn…“
- „Ich glaube, es kommt darauf an, ob…“
- „Es ist nicht richtig, weil…“
In meiner ersten Klassenarbeit der 10. Klasse zum Thema community dieses Jahr gab es bei der Schreibaufgabe eine Wahloption zu ebendieser Frage: „Can men and women just be friends?“ Überraschend viele Schüler und noch mehr Schülerinnen haben diese Wahlaufgabe gewählt und aus ihrem Erfahrungsschatz berichtet. Ein kleiner Trostpunkt einer Englischkorrektur: Man erfährt gerade aus der comment-Aufgabe manchmal überraschend viel Persönliches aus dem Leben und der Gedankenwelt von Jugendlichen.
Beobachtungen von der Klassenfahrt
Noch mehr erfahren aus und über die Jugendwelt habe ich aber auf der Klassenfahrt am Gardasee, auf der ich letzte Woche mit genau den knapp 60 Schülern aus zwei Klassen war, die auch diese Klassenarbeit geschrieben haben. 2x 16h Busfahrt, viele gemeinsame Erlebnisse und einige Tisch- und Wandergespräche gaben mir viel Gelegenheit, soziale Beobachtungen zu machen. Eine soziale Dynamik, die ich beobachtete, hat mit den Geschlechtern und dem Umgang untereinander zu tun, der sich in den beiden Klassen sehr unterschiedlich abspielte:
1.) In einer Klasse waren und sind die Cliquen stark geschlechtergetrennt. Schon im Unterrichtsalltag gab es immer wieder Konflikte zwischen den beiden Gruppen: pumpende Jungs, die mit sehr zweifelhaften Männlichkeitsvorbildern wie Andrew Tate liebäugelten und als Tabubruch witzig fanden. Tate ist ein Kickboxer, Influencer und verurteilter Macho-Mann, der gerne Zigarre rauchend und oberkörperfrei erzählt, warum er nicht mit Frauen über 25 schläft („sie sind zu verbraucht“), und dann selbst auch gerne mal einen schnellen Spruch drückten – und Mädchen, die sich in feministischen Onlinekreisen bewegten und dagegenhielten. Das sind zwar nur die Extreme und es gibt in der Klasse auch viele Jungs und Mädchen, die einfach nur ihr Ding machen, aber auch weitestgehend unter sich bleiben. Auf der Klassenfahrt blieb das bis auf ein paar Ausnahmen auch weiter so. Auf der Busfahrt saßen Jungs und Mädchen getrennt und tauchten in ihre jeweils eigenen (Online-)Bubbles ab. Angekommen am Gardasee wollten die meisten Mädchen nicht gleichzeitig mit den Jungs ins Wasser und ein paar Mal mussten wir Lehrer aufgrund einiger provokanter oder verletzender Sprüche und Aktionen klärende Gespräche führen.
2.) In der Parallelklasse habe ich eine andere Dynamik beobachtet. Schon im Bus saßen die Jungs und Mädchen deutlich vermischter und sangen zusammen kitschige Schlager oder spielten gemeinsam Spiele. Als wir in Verona die Schüler in Gruppen eine Foto-Rallye machen ließen, wollten sage und schreibe 11 Jungs und Mädchen eine Gruppe gemeinsam bilden. Beim Schwimmen sprang fast die gesamte Klasse gemeinsam fröhlich ins Wasser, Vorbehalte oder Unsicherheiten gegenüber dem anderen Geschlecht waren wenig zu erkennen. Bei Wanderungen waren die Gruppen etwas bunter und die Stimmung etwas heiterer.
Reife durch Freundschaften
Nun will ich meine Beobachtungen nicht überbewerten und auch eingestehen, dass andere Faktoren wie z.B. die individuelle Zusammensetzung der Klassen eine Rolle gespielt haben können – allein einzelne starke Persönlichkeiten können ein Klassengefüge stark positiv und negativ prägen. Dennoch erscheint es mir relativ naheliegend, dass in der Gruppe, in der es so etwas ähnliches wie Freundschaften zwischen Schülerinnen und Schülern gab, mehr persönliche Reife sowie einen konstruktiveren und friedlichen Umgang miteinander zu erkennen gab.
Die Reihenfolge des letzten Satzes ist mir hier in Bezug auf die Ausgangsfrage, ob Jungs und Mädchen Freunde sein können, besonders wichtig: Zwischengeschlechtliche Freundschaften können ein Anzeichen und nicht die Ursache persönlicher Reife sein. Ich empfehle nicht allgemein und willkürlich, dass sich Jungs und Mädchen sowie Männer und Frauen in Freundschaften mit dem anderen Geschlecht stürzen sollen. Wenn ich einen Blogpost schreibe oder eine Predigt oder Unterrichtsstunde vorbereite, versuche ich mir immer wieder konkrete Menschen mit ihren Gesichtern vorzustellen, die im Klassen- oder Kirchenraum sitzen und mich zu fragen, wie sie diese Botschaft wohl empfangen würden, was sie damit anfangen können und ob die Inhalte auch wirklich für sie hör- und umsetzbar ist. Wenn ich mir nun einige 16-Jährige mit ihrer Persönlichkeit und Vorgeschichte anschaue, würde ich ihnen nicht guten Gewissens raten können, Schritte in die genannte Richtung zu gehen. Das scheint mir angesichts von Faktoren wie Schüchternheit, Identitätsunsicherheiten oder mangelnder Reife nicht weise und hilfreich zu sein.
Was ich aber durchaus behaupten würde ist, dass Menschen, die einen relativ natürlichen und freundlichen Umgang mit dem anderen Geschlecht pflegen – ich würde hier noch nicht einmal von Freundschaft im Sinne regelmäßiger Treffen und innerer Verbundenheit sprechen – genau das tun, weil sie ein Stückweit gereift sind. Sie haben über die Jahre gelernt, außerhalb einer engen geschlechtsexklusiven peer group Gespräche zu führen, ihre Vorstellungen über fremde Menschen nicht allein auf Basis von Online-Gurus, selbstreferentiellen Frauen- und Männercommunities oder unhinterfragten tradierten Bildern aus Familie und Gemeinde zu entwickeln und den/die Andere/n nicht nur als Feind, Fremden, Verrückten oder Vollpfosten zu betrachten.
Die Rolle von social media
Doch woher kommt diese Reife und wodurch wird sie verhindert? Ich habe da eine Theorie.
Da sich einige der genannten Eindrücke schon während der Klassenfahrt erhärteten, trennten mein Kollege und ich die erstgenannte Klasse bei einer Andacht auf, nahmen die Jungs beiseite und diskutierten darüber, was einen guten bzw. echten Mann aus ihrer Sicht ausmacht. Das Gespräch war überraschend offen und ehrlich und sie konnten auch einige gute Eigenschaften und Vorbilder nennen, die sowohl tough und tender sind, die Verantwortung übernehmen, fleißig sind, beschützen und nicht beschimpfen. Soweit, so gut. Warum haben sie trotzdem den Drang, Mädchen zu provozieren, sich über sie zu lustig zu machen, sich als „Sigma“ (ein Begriff aus der “manosphere“, der unabhängige und ruhige Coolness darstellen soll) zu bezeichnen oder oberkörperfrei in einen italienischen Supermarkt zu gehen (aus dem sie kurze Zeit später rausgeworfen wurden)? Der Grund erscheint mir einfach:
Eine allgemeine Erkenntnis über eine positive Männlichkeit kann leider die tägliche Wirkung toxischer Online-Räume und der damit gepaarten Armut an tatsächlichem und offenen Austausch mit dem anderen Geschlecht nicht ersetzen. Die Präg- und Sogwirkung von dem, was wir täglich konsumieren und gruppendynamisch austauschen, ist viel stärker als das, was wir abstrakt glauben oder grundsätzlich für richtig halten, wenn uns jemand nach unseren Idealen fragt.
Ohne allzu pathetisch oder alt und oberlehrerhaft klingen zu wollen, aber ein Stückweit macht es mich traurig zu sehen, wie viele junge Männer und teilweise auch Frauen wir an bzw. durch social media und deren destruktiven Algorithmen, die verzerrte Ideale suggerieren, echte Begegnungen verhindern und Kampfstimmung inszenieren, verlieren. Gerade wenn man als Lehrer junge Menschen über Jahre begleitet, sieht man die subtilen Veränderungen in Bezug auf Persönlichkeit und sozialen Umgang. Und auch wenn Entwicklungen und Veränderungen zur Pubertät dazugehören, sieht man deutliche Unterschiede dabei, welche dieser Entwicklungen eher konstruktiv und welche eher destruktiv für die Person selbst und deren Umgebung sind.
Vom Schauen zur Begegnung
Ein wirksames Gegenmittel, um einen konstruktiveren, entspannteren und friedlicheren Austausch zwischen den Geschlechtern zu entwickeln, ist aus meiner Sicht und worauf viele meiner Blogartikel hinauslaufen (z.B. über Politik , Kultur oder Geschichte), die tatsächliche Begegnung, in diesem Fall mit dem anderen Geschlecht, auch bereits für Jugendliche. Das muss nicht in einer Beziehung und noch nicht einmal in einer Freundschaft enden, kann aber im Sinne des Wortes „Freundschaft“ ein freundliches, zugewandtes und am Wohlergehen des Anderen interessiertes Interagieren sein. Die Familie, die Schule und auch die Jugendgruppe in der Gemeinde können Orte dafür sein, dass diese Art der Interaktion gehegt und gepflegt wird. Es reicht nicht nur, auf die Gefahren von social media und auf die bösen und toxischen Auswüchse des anderen Geschlechts hinzuweisen. Wir müssen es schaffen, positive Gegenakzente zu setzen und einen echten Austausch zwischen konkreten Menschen, mit denen man sich auseinandersetzen muss und darf, anzuregen. Das kann vielfältig aussehen: Gruppenarbeiten durchmischen, gemeinsam was erleben, Austauschrunden etablieren, Kochprojekte, Gesellschaftsspiele spielen u.v.m..
Diese eher praktischen Maßnahmen fußen für mich als christlich-motivierter Pädagoge auf einer grundsätzlicheren Aufgabe, nämlich meine Schüler dazu anzuregen, die Realität, an der das andere Geschlecht mit seinen 50% der Menschheit einen recht großen Anteil hat, erstmal wirklich wahrzunehmen. Dazu las ich in einem langen Essay über „kontemplative Pädagogik“ neulich folgendes schön ausgeführt:
In diesem Licht besteht die Aufgabe von Lehrkräften darin, den Schülern zu helfen, aufmerksam zu sein und Dinge richtig wahrzunehmen. Wenn die Wirklichkeit das ist, was wir behaupten, dass sie ist, dann wird sie die Schüler auf dieselbe Weise formen, wie Sonne und Wasser eine wachsende Pflanze nähren. […]
Sokrates, Auden und Weil geht es nicht darum, dass Schüler die richtigen Meinungen haben, sondern dass sie den richtigen Blick entwickeln. Sokrates möchte den Blick seiner Schüler „umlenken“; Auden betont die letztendliche Freiheit des Schülers; […] Jeder von ihnen macht auf seine Weise deutlich, dass die Rolle der Lehrkraft darin besteht, den Schüler in eine bestimmte Richtung zu weisen – und sich dann zurückzunehmen.
In einer Zeit, in der sowohl weltliche als auch religiöse Autoritäten den Aufstieg der Aufmerksamkeitsökonomie beklagen, bietet die kontemplative Betonung der Aufmerksamkeit religiösen Pädagogen einen gangbaren Weg, der ein breites Publikum ansprechen könnte. […]– (engl. Quelle) 1In this light, the job of teachers is to help students pay attention, to notice things properly. If reality is what we claim it to be, then it will shape students in the same way that sun and water nourish a growing plant. […]
Socrates, Auden, and Weil are not concerned with students having the right opinions, but only the right vision. Socrates aims to “redirect” the sight of his pupils; Auden stresses the ultimate freedom of the student; […]
Each, in his or her own manner, makes it clear that the role of the teacher is to point the student in a certain direction, and then get out of the way. At a time when secular and religious authorities alike lament the rise of the distraction economy, the contemplative emphasis on attention offers religious educators a path forward with the potential for a broad appeal.
Der Umgang mit dem anderen Geschlecht ist letztlich nur ein Beispiel dafür, wie Menschen entweder ge- oder verlernt haben, etwas oder jemanden zu „schauen“ und wahrzunehmen. Die oft reißerischen Clips auf TikTok & Co. bieten aufgrund ihrer Kürze, ihrer Dekontextualisierung, ihrer Entkoppelung von realem zwischenmenschlichen Feedback, ihrer Einbettung in ein Medium, welches durch das schnelle Wegwischen längeres Nachdenken nicht fördert, und ihren oft einseitigen und unterkomplexen Inhalten keine gute Grundlage für wirksames Wahrnehmen. Manche literarische Texte, in denen die Gedanken und Motive eines Charakters packend und nachvollziehbar beschrieben werden, haben bei meinen Schülern schon tiefere Aha-Momente hervorgerufen als ein Meme oder ein oberflächlicher 20-Sekunden-Clip. Aber egal ob durch Literatur, Erlebnispädagogik oder Reflexionsgespräche: Ich möchte meine Schüler, Freunde, Blogleser und letztlich auch mich selbst immer wieder dazu motivieren, den Anderen zu „schauen“ und die wunderbare Realität dieser Schöpfung und Menschheit in all ihren Facetten und Einzelzeiten wahrzunehmen und mit ihr zu interagieren. Vielleicht werden bei der nächsten Fahrt Jungs und Mädchen unverkrampft und fröhlich und mit einem Gefühl der gemeinsamen Verbundenheit von Mensch, Natur und Gott gemeinsam in den See springen.
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