Meine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Nachdem ich vor einigen Jahren an einem 1. April in weiser bildungspolitischer Voraussicht auf facebook vor der „Ersti-Invasion“ gewarnt hatte (siehe rechts), habe ich letzte Woche wieder etliche herumziehende Orientierungsgruppen orientierungsloser Erstis gesehen, die Münster beschallten und beglückten. 🍻🎶
Fast zeitgleich mit dem Wiedererblicken der Erstis habe ich am 27.9. das Abschlussexamen meines Referendariats erfolgreich hinter mich bringen dürfen. Seitdem begleiten mich Gefühle von Erschöpfung, Erleichterung und Glückseligkeit. Ein großes Dankeschön an alle lieben Glücks- und Segenswünscher, an Korrekturleser und Ermunterer, an kooperative Schüler und Lehrer und an Gott selbst, von dem ich mich stets getragen und geführt fühlte, auch wenn mich selbst einige Ängste plagten…🙏
Gerade mit seiner Berufsausbildung fertig zu sein und gleichzeitig die grölenden Erstis in der Stadt zu sehen, hat mir einen Langzeitblick auf meine gesamte Studien- und Ausbildungszeit eröffnet. Ich weiß noch, wie ich (aufgrund eines Studienwechsels sogar zweimal) Ersti war, mit wie viel Anspannung und Respekt ich als kleiner Ostfriese der großen Uni-Welt begegnete, wie nervös ich erste Kontakte in der O-Woche knüpfte. Wie weit weg damals das Referendariat und das Examen erschien. Wie wenig Ahnung ich vom Studieren, Unterrichten und von der Welt hatte.
Schritt für Schritt fügte sich alles und jetzt bin ich ein alter Hase, der melancholische Rückblicke auf seinem Blog schreibt. Ich bin froh, kein Ersti mehr sein zu müssen. Schon der Gedanke, das ganze System nochmal zu durchlaufen, strengt mich an. Ein Stückweit bemitleide ich die Erstis für all die Hürden, die sie noch zu überspringen haben. Aber gleichzeitig gönne ich ihnen eine wunderbare lehr-, freuden- und begegnungsreiche Studienzeit, wohl eine der prägendsten im Leben.
Als ich an einem schönen Abend nach dem Examen mit einigen frisch examinierten Referendaren, die ich damals in besagter O-Woche traf, anstieß, konnten wir größtenteils dankbar auf die Studien- und Refzeit zurückblicken. Angesichts all der Zeit und Mühe, die wir in diese steckten, diskutierten wir recht hitzig die Frage, ob uns insbesondere das Studium „wirklich viel gebracht hat“. My take: Ich bin überzeugt, dass viele universitäre Veranstaltungen, Hausarbeiten, Diskussionen und Besonderheiten (zB Praxis- und Auslandssemester) mich direkt oder indirekt geprägt, bereichert und auf die Berufs- und Lebenspraxis vorbereitet haben, auch wenn man nicht immer einfache 1:1-Anwendungen von Uni auf Schule ziehen kann. Auch wenn das Lehramtsstudium oft gescholten wird, hatte es seinen Platz und war für die eigene Entwicklung bedeutsamer, als man es möglicherweise zunächst vermutet.
Seit einer Woche mache ich ein Praktikum an einer Montessori-Grundschule, an der die Erstklässer in jahrgangsübergreifenden Klassen „Erstis“ genannt werden. Ich finde diese Bezeichnung etwas skurril, verbinde ich sie sonst doch mit der Uni-Welt. Ihr Weg zum Berufsanfänger ist noch weiter und auch sie haben noch viel zu meistern, auch wenn mir ihre Herausforderungen manchmal kleiner erscheinen. Doch ebenso bewundere ich ihren unbändigen Spieltrieb auf dem Schulhof (und im Klassenzimmer…), ihre weitestgehende Sorglosigkeit gegenüber der Zukunft und ihr großes Redebedürfnis.
Ich möchte mich immer wieder daran erinnern, dass jede Aufgabe und Herausforderung, die jemand vor sich hat, für ihn oder sie groß und wichtig ist, auch wenn sie mir im Rückblick als gar nicht so schlimm oder bedeutend erscheint – egal ob es eine „doch gar nicht so schwere“ Englischgrammatik“ („Was gibt’s da nicht zu verstehen?“), das mir manchmal lächerlich erscheinende Teenager-Drama über „BFFs/ABFs“ oder später irgendwelche Uni- oder Refprüfungen sind. Zugleich möchte ich auch nicht vergessen, was Kinder und Jugendliche in einer Lebensphase alles so begeistert und antreibt, auch wenn es mir nicht immer in den Kram bzw. das Konzept passt (z.B. Bewegungs- und Mitteilungsbedürfnis)
Obwohl ich mich selbst eigentlich noch als relativ jung betrachte, verliere ich schnell diese „entwicklungssensible Altersempathie“ – die Fähigkeit, sich möglichst genau in die Gedanken- und Gefühlswelt von Andersalterigen hineinzuversetzen und das Bemühen, sich daran zu erinnern, wie sich bestimmte Herausforderungen oder Freuden einer Lebens-, Glaubens- oder Berufsphase für einen selbst angefühlt haben. Oft denke ich zu sehr aus meiner Perspektive und meinem Entwicklungsstand heraus und vergesse dabei, dass ich mich auch mal mit Englisch schwer tat, dass ich in der Pubertät ziemlich unsicher war u.v.m…. Bitte erinnert mich an diesen Post, wenn ich später mal spießerhaft auf jüngere Leute schimpfen sollte 😉
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