Scholz, 250 Jahre Industriegeschichte und ich

In dem durchaus lebhaften ersten „Triell“ machte Olaf Scholz einige Ausführungen, die mich als Geschichtslehrer aufhorchen ließen:

„Wir haben 250 Jahre Industriegeschichte, die beruhen auf Kohle, Gas und Öl. Und wenn wir in knapp 25 Jahren klimaneutral werden bis 2045, dann ist das das größte industrielle und wirtschaftliche Modernisierungsprojekt unseres Landes. So schnell hat sich die Industrie seit über 100 Jahren nicht geändert. Deshalb muss man diese Größenordnung auch genau verstehen.“

Das Video zeigt den entsprechenden Ausschnitt (ab 49:00min)

Als geschichtsaffiner Mensch mit einem Faible für „die großen Linien“ empfinde ich diese rhetorische Strategie als ziemlich clever und wirksam. Scholz zoomt hier quasi aus dem unmittelbaren Zeitgeschehen heraus und setzt die zukünftigen Veränderungen ins Verhältnis zur Entwicklung der letzten Jahrhunderte.

Auch wenn es hier um tote Materie wie „Kohle, Gas und Öl“ ging, sprach mich dieser kurze Ausflug in die Geschichte auf eine seltsame Art und Weise emotional an. Ich unterrichte gerade Industrialisierung in meinem Grundkurs, wo wir uns mit Quellen über die damaligen schrecklichen Arbeitsbedingungen in Bergwerken und Fabriken, die schnelle Urbanisierung, die technischen Entwicklungen und dergleichen befassen. Sich vorzustellen, wie Menschen diese Umwälzungen erlebt haben, wie kurz die Lebenserwartung in dieser Zeit war (35 Jahre!), aber auch welchen langfristigen Fortschritt und Wohlstand wir im Vergleich zur agrargeprägten vorindustriellen Zeit ohne Eisenbahn, Fahrrad, Autos, Elektrizität und Produktvielfalt erreicht haben, lässt mich staunend und nachdenklich zurück.

Es fasziniert mich, darüber nachzudenken, wo wir herkommen.

Ich bin 1990 geboren, in eine Zeit und Umgebung mit vielen Annehmlichkeiten – ein warmes Haus, spannende Filmkassetten, eine gute Arztversorgung auf Abruf; ein großer Multivan, der meine Familie an ferne Orte führte.

Heute schaue ich Videos und Livestreams von anderen Erdteilen auf YouTube, die durch irgendwelche Wunder der Technik, die ich nicht näher erklären kann, auf einem kleinen Gerät in meiner Hosentasche angezeigt und auf kleine kabellose weiße Dinger in meine Ohren übertragen werden. Wenn mein Fahrrad platt ist, scanne ich mit einer kleinen Kamera schwarze Punkte auf einem grünen Roller, der in der Stadt rumsteht und darauf wartet, mich von A nach B zu transportieren. Ich lebe besser und bequemer als viele mittelalterliche Könige in ihren kalten Schlössern.

Nichts davon habe ich erfunden, nichts habe ich für das getan, was schon da ist. Schweiß, Kreativität und Leid vorheriger Generationen haben mir all das ermöglicht, was ich heute wie selbstverständlich und ohne größeres Nachdenken nutze.

250 Jahre Industriegeschichte lässt mich klein werden. Ich glaube, dass ein Blick zurück hilfreich dabei ist, sich selbst zu verorten: Einen gewissen Respekt für die Lebensleistung meiner Vorfahren zu entwickeln. Sich selbst nicht als zwangsläufig moralisch-menschlich zu begreifen, nur weil man in eine Gesellschaft geboren wurde, in der schon vieles errungen und erkämpft wurde. Die Schriften toter Menschen zu lesen, in dem Wissen, dass sie auch ohne den technischen und moralischen Fortschritt heutiger Tage kluge und sensible Menschen gewesen sein könnten. Nicht jedem Hype und jedem tagesaktuellen Konflikt die Bedeutung zuzumessen, die er gerade medial-bedingt zu haben scheint.

Ein zweiter Vorteil eines Rückblicks ist die Motivation, seine Rolle in der Geschichte aktiv und gestalterisch einzunehmen. Als Christ begreife ich mich als kleines Zahnrad in tausendjähriger Menschheits- und Kirchengeschichte, welches hoffentlich seinen Teil dazu beiträgt, den nachfolgenden Generationen eine Welt zu überlassen, die etwas besser ist, als ich 1990 geboren wurde. Was dieses „besser“ ausmacht, hängt viel von den eigenen Wertmaßstäben und Prioritäten ab. Mir liegen als „Jesus-Nachfolger“ und auch als „Sebastian“ beispielsweise gesunde und ehrliche zwischenmenschliche Beziehungen am Herzen, aber auch die Vermittlung von Reflexion, Verantwortung und Neugierde spielen für mich als Lehrer eine große Rolle.

Wer weiß, wie viel Industriegeschichte, Familiengeschichte und Menschheitsgeschichte uns noch bevorsteht und wie viel persönliche Lebenszeit wir noch in diesen Geschichten haben. Ich wünsche uns und mir, Geschichte sowohl zu „fühlen“ als auch bewusst und aktiv zu leben.

Denn alles, was zuvor geschrieben worden ist, wurde zu unserer Belehrung zuvor geschrieben, damit wir durch das Ausharren und den Trost der Schriften Hoffnung fassen. – Römer 15,4

2 Kommentare zu „Scholz, 250 Jahre Industriegeschichte und ich

    1. Haha, nein, das habe ich damit nicht gesagt. Ich habe Scholz‘ Zitat nur als „Aufhänger“ (appetizer, discussion starter) verwendet. Danke für deine Rückmeldung 🙂

Ich freue mich sehr über jegliche Reaktion - egal ob kritisch, ermutigend oder ergänzend :)