Als wir das Spiel zur Seite legten

Ich war 11 und spielte am Dienstagnachmittag zu Hause mit Tobi, meinem Schulfreund. Ich weiß noch ziemlich genau, wie meine Mutter emotional aufgelöst und aufgewühlt vom Einkaufen nach Hause kam und ins Haus hineinrief: „Amerika wurde angegriffen! Im Radio sprechen sie nur noch davon. Es droht Krieg.“ Der kleine Fernseher wurde eingeschaltet. Immer und immer wieder wurde gezeigt, wie Flugzeuge in zwei große Türme flogen. Tobi und ich waren fasziniert, geschockt und perplex. Gerade spielten wir noch sorglos irgendein Kartenspiel in einer ostfriesischen Kleinstadt, jetzt schauten wir gebannt auf große Ereignisse im fernen New York. Ich habe nicht verstanden, warum böse Menschen so etwas tun. Auch von den Kriegen nachher habe ich nur wenig begriffen; von Afghanistan hatte ich noch nie etwas gehört, genauso wenig wie von Al-Quida und islamistischen Terrorismus. In der Schule machten wir Witze: Womit bewegt sich Bin-Laden fort? Mit der Tali-Bahn natürlich. Wir waren Jungs in der fünften Klasse, kleine Witzchen konnten wir besser als Terror und Krieg zu verstehen.

Jetzt bin ich 31 und versuche Kindern und Jugendlichen, die nach 2001 geboren sind, dabei zu helfen, diese Ereignisse einzuordnen und ihre Tragweite zu verstehen. Ich zeige ihnen Ausschnitte einer Montage der damaligen Berichterstattung und wir sprechen über die Atmosphäre, den Schock und die Macht der Bilder.

Ich glaube schon, dass ich mittlerweile mehr von der Welt verstehe: einerseits durch die Bildung, die ich selbst erfahren habe, als Schüler und Englisch- und Geschichtsstudent. Aber auch als eifriger Nachrichtenleser und Politik-Diskutant mit Freunden. Und schließlich auch als Lehrer, der vergangene Weltgeschichte und jetzige Großereignisse komprimiert und verständlich vermitteln muss.

Und dennoch fühle ich mich manchmal wie der 11-jährige Junge damals, der Dingen zusieht, die ihm zu groß sind: Kleine Viren, die ich nicht sehen kann; Impfungen, über die so viel ausgesagt und gestritten wird; Klima-Modelle und die richtigen Schlussfolgerungen aus ihnen; Parteien, die alle so viel Plausibles sagen. Ob und wie 0,7%-Entwicklungshilfe noch sinnvoll ist, weiß ich auch mit meinen Lese- und Afrika-Erfahrungen nicht zu sagen.

Manchmal will ich mich einfach aus all dem einfach zurückziehen und wieder spielen gehen. Doch dieser Luxus ist mir als Erwachsener nicht beschieden. Biedermeier ist nicht erwünscht, der Rückzug ins Private eine zu billige Flucht. Aber vielleicht ist es dennoch manchmal ratsam, erstmal nur schockiert, fragend und klein zu sein vor den teils immer noch (emotional) unbegreiflichen Katastrophen und Umwälzungen dieser Zeit, statt mit allzu großer Gewissheit zu postulieren, wer oder was jetzt Schuld an all dem ist und was sich nun alles ändern muss. Wahrscheinlich verkläre ich meine Kindheit, aber es tat mir glaube ich ganz gut, nicht alles sofort einordnen und kommentieren zu können und sich in der Vertrautheit zu Hause zu bergen.

Ein Gefühl von Vertrautheit und Ruhe wollte auch Präsident George W. Bush schaffen. Als er während des Anschlags Schulkindern beim Lesen zuhörte und dann informiert wurde, blieb er erstmal sitzen und ließ zu Ende lesen. Er begründete dies in einem Video später damit, dass er „nichts Dramatisches“ tun und den richtigen Ton treffen wollte. Vielleicht hatte er intuitiv gespürt, dass Vertrautheit und Geborgenheit in und trotz aller Katastrophen und Bösem gerade bei den Kleineren kostbare Güter sind.

Tobi ist mittlerweile Polizist in Berlin, ich bin Lehrer in NRW. Wir können Terror, Hass und Spaltung nicht verhindern, aber vielleicht sorgen wir beide für ein wenig mehr Ordnung in unserer Welt. Vielleicht schaffen wir auch Vertrautheit und das Gefühl, dass sich jemand kümmert und die Welt nicht so böse ist, wie sie manchmal scheint und wie viele Leute sagen.

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Zum Abschluss noch ein Liedtipp: Das schöne und bewegende Lied „Where were you“ von Alan Jackson fasst die unterschiedlichen Reaktionen und Gefühle zum 11. September treffend zusammen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal auf einen amerikanischen Country-Sänger verlinken würde, aber zu diesem besonderen Anlass springe ich mal über meinen Schatten.

Where were you when the world stopped turning on that September day?
Were you in the yard with your wife and children
Or working on some stage in L.A.?

Did you stand there in shock
At the sight of that black smoke
Risin‘ against that blue sky?
Did you shout out in anger
In fear for your neighbor
Or did you just sit down and cry?

[…]

I’m just a singer of simple songs
I’m not a real political man
I watch CNN
But I’m not sure I can tell you
The difference in Iraq and Iran
But I know Jesus and I talk to God
And I remember this from when I was young
Faith, hope and love are some good things He gave us
And the greatest is love

Ich freue mich sehr über jegliche Reaktion - egal ob kritisch, ermutigend oder ergänzend :)