Warum verwirrte Wanderer nicht immer einen Helikopter brauchen

Es gibt Geschichten, aus denen man im Alter herauswächst. Wenn ich an meinen jugendlichen Filmkonsum denke, muss ich etwas schmunzeln, was mich damals so an Geschichten begeistert hat. Ein wöchentliches Highlight war „Alarm für Cobra 11“ am Donnerstagabend. Zusammen mit meinem Papa schaute ich mir wilde Verfolgungsjagden auf der Autobahn an und fieberte mit Kommissar Semir und seinen wechselnden Partnern mit, die Bösewichte dieser Welt innerhalb einer Stunde und zwei Werbepausen zu fangen. Besonders gebannt war ich mich immer, wenn das „SEK“ gerufen wurde – dann seilten sich schwarzbekleidete Profis aus Helikoptern ab, nachdem ihnen per Funk „Zugriff“ erteilt wurde. Wenn am Ende Semir einen coolen Spruch drückte und die Gangster gefesselt waren, war meine Welt in Ordnung.

Auch wenn solcherlei Erzählungen durchaus unterhaltsam waren, kann ich heute nicht mehr so viel mit ihnen anfangen. Vielleicht liegt das an der Komplexität des Lebens, die einem zunehmend bewusst wird. Alle meine bisherigen Polizeianzeigen  diverser Diebstähle waren erfolglos, die kleinen und großen Bösewichte laufen frei herum, die meisten Probleme lassen sich nicht in einer Stunde lösen und bei manchem Leid der Welt hilft auch kein cooler Spruch. Zudem steht mein Leben in großer Diskrepanz zur Serie: Ich selbst habe noch nicht mal ein Auto fürs Jagen und fürs SEK bin ich gänzlich untauglich. Ob es vielleicht in 30 Jahren eine Krimiserie gibt, wo mit Helm bekleidete Polizisten auf Fahrradstraßen eBike-Gangstern mit dicken Radreifen hinterherfahren? Das wäre eine witzige Vorstellung.

Aber es gibt auch Geschichten, die mit einem erwachsen werden und in die man tiefer hineinwächst. So mancher Kinderfilm, den man früher für seine Albernheiten oder peinlichen Missgeschicke mochte, erweist sich im Alter als passende Lebensparabel, bissige Gesellschaftskritik oder psychologische Persönlichkeitsstudie.

Als ich letztens mit meinem Englisch-LK Shakespeares Hamlet mit „König der Löwen“ verglich, wurde mir neu deutlich, wie viel intellektuelles und psychologisches Gedankengut in scheinbar unbedarfte Animationsfilme fließt. Besonders hilfreich ist es in dieser Hinsicht, einen Ehepartner zu haben, der einem die Schönheit und Tiefe von Animationsfilmen regelmäßig aufzeigt. Seit ich mit Luise verheiratet bin, weiß ich nun, dass ein Pferdefilm wie „Spirit“ sehr bewegend sein kann und „Mulan“ auch als Spannungsfeld der Frau zwischen familiärer Geborgenheit und emanzipatorischer Freiheit gesehen werden kann, selbst wenn mein Heimatgenosse und Blödelkönig Otto Waalkes mitspielt bzw. mitspricht.

Eine andere Art Geschichte, die mit mir erwachsen geworden ist, ist eine, die ich schon als Kind in einer sogenannten „Sonntagschule“ kennenlernte. Es ist die Geschichte von einem weltberühmten göttlichen Wunderheiler, der sich als einfacher Mensch getarnt hat und in seiner Camouflage zwei ahnungslosen Wanderern die Welt erklärte und am Ende die Superpower hatte, einfach per Fingerschnips zu verschwinden und unsichtbar zu werden.

So ähnlich könnte man die Geschichte der sogenannten Emmausjünger erzählen, wenn man sie als leicht faszinierbarer junger Mensch aufnimmt. Doch mit zunehmender Lebenserfahrung sah ich die Geschichte mehr als eine, in der zwei völlig enttäuschte Menschen nach einem tragischen Großereignis – eine öffentliche Kreuzigung ihrer Hoffnungsfigur – zusammen auf dem Heimweg waren. Immerhin hatten sie sich selbst und konnten gemeinsam verarbeiten, dass nicht nur ihr Messias gestorben war, sondern damit auch ihre Hoffnung. Doch so schön Zweisamkeit auch ist, sie hilft auch nicht weiter, wenn beide mit ihrem Latein am Ende sind. Sie waren beide auf der Verliererseite und hatten sozusagen aufs falsche Pferd gesetzt, denn ihr Guru oder wer auch immer Jesus für sie war, war gestorben. Die Besatzungsmacht würde wohl noch viele Jahre bleiben, wenn selbst der altruistische Wunderheiler von ihr getötet wurde. Sie waren Wanderer, die man heutzutage als ziemlich „lost“ bezeichnen würde.

Diese Bestandsaufnahme ist eine, mit der sich sicherlich viele in irgendeiner Form in ihrem Leben identifizieren konnten oder können: Enttäuschung und Resignation, sei es über Liebe, Freundschaft, Beruf oder Politik. Vielleicht haben wir sogar Glück und einen Weggefährten, der unsere Gefühle nachvollziehen kann oder sogar gleich empfindet. Doch selbst das kann das Problem nicht wirklich lösen. Es braucht externen Eingriff, eine Hilfe von außen.

Diese kommt aber nicht dramatisch aus dem Helikopter abgeseilt, sondern in ganz unscheinbarer Form. Jesus gesellt sich als Wanderkollege zu den Resignierten und beginnt mit ihnen zu sprechen. Er stellt zunächst erstmal eine Frage, deren Antwort er schon weiß: „Was habt ihr unterwegs miteinander besprochen, und warum seid ihr so traurig?“ (Lk 24,17) Warum stellt sich Jesus dumm? Vielleicht, um eine ehrliche Antwort herauszufordern. Weil es gut ist, Enttäuschungen und Gefühle zu benennen. Schonungslos und unverstellt. Ein erster Schritt Richtung Heilung.

Dann legt Jesus ihnen „die Schriften aus“, wie es heißt. Er korrigiert ihre Erwartungen und erklärt, warum ihr Messiasbild verzerrt ist, dass der echte Messias sterben musste und dass Befreiung nicht nur politisch zu verstehen ist.

„Ihr Herz brannte“ (V. 32). Etwas ist in Schwingung gekommen, sie können wieder klarer sehen und werden durch das, was dieser Fremde erzählt, berührt und bewegt. Menschen werden wieder lebendig, wenn Wahrnehmungen korrigiert und Wahrheiten vernommen werden.

Doch trotz dieser Resonanz, die da erzeugt wird, macht Jesus wieder etwas Unerwartetes: er tut so, als ob er die Wanderer verlassen möchte. Er möchte weitergehen (V. 28). Warum wohl? Wahrscheinlich, um sie erneut herauszufordern, selbst aktiv zu werden. Er drängt sich nicht auf, sondern testet ihr Interesse und ihre Initiative. Möchten sie wirklich bei ihm sein? Möchten sie mehr hören und erfahren? Sie möchten. Sie drängen ihn, bei ihnen zu Hause zu nächtigen und zu essen.

Nach einem Dankgebet und der Essensausgabe erkennen sie endlich, wer da die ganze Zeit mit ihnen gesprochen hat. Was auch immer vorher ihren Blick versperrt hatte, beim Essen und in der Intimität der Gemeinschaft mit Jesus am Tisch werden ihnen die Augen geöffnet. Sie können klar sehen, die Desillusion weicht der Freude – doch genau in diesem Moment verschwindet Jesus wieder vor ihren Augen. Dies mindert ihre Begeisterung aber nicht, sie ziehen los zu ihren Kumpanen und berichten von ihrer überraschenden Begegnung.

Vielleicht war dieser Text etwas zu theologisch für dich. Ich selbst ertappe mich oft dabei, Bibelgeschichten in Artikeln zu überspringen, weil ich sie schon zu kennen glaube. Vielleicht kannst du auch nichts mit einer solchen alten, wundersamen Geschichte anfangen. Möglicherweise fühlst du dich bei religiösen Texten tendenziell angepredigt oder getriggert. Das kann ich verstehen.

Dennoch wollte ich diese Geschichte teilen, weil sie für mich persönlich zu meinen Lieblingsgeschichten in der Bibel gehört. Sie zeigt, welche Auswirkungen ein welthistorisches Ereignis wie Ostern auf Individuen haben kann; auf enttäuschte und umherirrende Wanderer, die ihre Welt nicht mehr begreifen. Die Geschichte setzt nicht voraus, dass Menschen immer alles sofort verstehen. Sie zeigt einen Jesus, der nicht triumphal seine Auferstehung zur Schau stellt, sondern der Fragen stellt, der aus der Resignation und Reserve lockt, der gleichsam mysteriös aber auch offenbar ist. Er sucht Gemeinschaft, drängt sich aber auch nicht auf. Er ist jemand, der in seiner Lebendigkeit und Macht Augen öffnet und Herzen in Brand setzt und doch auch jemand ist, der nicht immer greifbar ist und der uns manchmal nur so viel Begegnung gibt, wie wir für den nächsten Schritt brauchen.

Die Geschichte als Ganzes lesen

13 Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tag zu einem Dorf namens Emmaus, das von Jerusalem 60 Stadien entfernt war. 14 Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschehnissen.

15 Und es geschah, während sie miteinander redeten und sich besprachen, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. 16 Ihre Augen aber wurden gehalten, sodass sie ihn nicht erkannten. 17 Und er sprach zu ihnen: Was habt ihr unterwegs miteinander besprochen, und warum seid ihr so traurig? 18 Da antwortete der eine, dessen Name Kleopas war, und sprach zu ihm: Bist du der einzige Fremdling in Jerusalem, der nicht erfahren hat, was dort geschehen ist in diesen Tagen? 19 Und er sprach zu ihnen: Was? Sie sprachen zu ihm: Das mit Jesus, dem Nazarener, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und dem ganzen Volk; 20 wie ihn unsere obersten Priester und führenden Männer ausgeliefert haben, dass er zum Tode verurteilt und gekreuzigt wurde. 21 Wir aber hofften, er sei der, welcher Israel erlösen sollte. Ja, bei alledem ist heute schon der dritte Tag, seit dies geschehen ist! 22 Zudem haben uns auch einige Frauen aus unserer Mitte in Verwirrung gebracht; sie waren am Morgen früh beim Grab, 23 fanden seinen Leib nicht, kamen und sagten, sie hätten sogar eine Erscheinung von Engeln gesehen, welche sagten, er lebe. 24 Und etliche der Unsrigen gingen hin zum Grab und fanden es so, wie es auch die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber haben sie nicht gesehen.

25 Und er sprach zu ihnen: O ihr Unverständigen, wie ist doch euer Herz träge, zu glauben an alles, was die Propheten geredet haben! 26 Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? 27 Und er begann bei Mose und bei allen Propheten und legte ihnen in allen Schriften aus, was sich auf ihn bezieht.

28 Und sie näherten sich dem Dorf, wohin sie wanderten; und er gab sich den Anschein, als wollte er weitergehen. 29 Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt! Und er ging hinein, um bei ihnen zu bleiben. 30 Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, sprach den Segen, brach es und gab es ihnen. 31 Da wurden ihnen die Augen geöffnet, und sie erkannten ihn; und er verschwand vor ihnen. 32 Und sie sprachen zueinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Weg, und als er uns die Schriften öffnete? 33 Und sie standen auf in derselben Stunde und kehrten nach Jerusalem zurück und fanden die Elf und ihre Gefährten versammelt, 34 die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden, und er ist dem Simon erschienen! 35 Und sie selbst erzählten, was auf dem Weg geschehen war, und wie er von ihnen am Brotbrechen erkannt worden war.

Lukas 24,13-35

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