Mit Waffe im Anschlag und Macht in den Fingern

Mit Flip-Flops am Strand und hinter uns gambische Soldaten mit einem gigantischen Maschinengewehr auf einem Jeep. Ein durchaus gewagtes Urlaubsbild, welches ich letztens bei der Fotoorganisation wiederentdeckte und die mich an eine seltsame Realität erinnerte, die damals alltäglich war: In meinen Aufenthalten in Afrika sah ich immer wieder Waffen in der Öffentlichkeit. Egal ob Senegal, Gambia oder besonders Nigeria: Überall gab es Polizisten, Soldaten oder die VIP-Securitymänner, die wie selbstverständlich eine AK-47, Pistolen und anderweitiges Schießgerät offen bei sich trugen. Einmal wurde ich von der nigerianischen Uni für einen Ausflug in einem Konvoi in einen Wagen platziert, bei dem zwei Bodyguards auf uns aufpassen sollten. Mit dabei natürlich: Waffen, wobei diese seltsamerweise bunt zusammengesetzt und geklebt waren.

Als der Konvoi auf einer matschigen Straße steckenblieb. Vorne links sieht man eine der genannten bunten Waffen.

Waffen in den Händen fremder Menschen weckten in mir ein mulmiges Gefühl. Auch wenn ich keine aktive Bedrohung wahrgenommen habe, wusste ich, dass Waffenträger da etwas in der Hand haben, was mich im Nu ins Jenseits befördern könnte. Irrationale Gedanken kamen hoch: Was ist, wenn… er schlechte Laune hat, ich was falsch mache, ich auf dieser Reise in ein Gefecht gerate? Die Szenarien traten Gott sei Dank nie ein und waren auch angesichts der Freundlichkeit und Professionalität der meisten Waffentragenden unbegründet, aber dennoch fühle ich mich noch heute in der Nähe von Machtmitteln aller Art – seien es Waffen, schnelle Autos auf der Gegenfahrbahn oder alkoholisierte Halbstarke – latent unwohl. Als waffen- und muskelloser bahnfahrender Hänfling bin ich mächtigeren Menschen hilflos ausgeliefert und kann nur hoffen und beten, dass alles gut geht.

Das Bild vor dem Jeep ist nun schon über 11 Jahre alt. In der Zwischenzeit habe ich zwar weder meinen Körper noch meine Ausstattung merklich widerstandsfähiger gemacht, aber ich bin doch mächtiger geworden. 

Macht habe ich unter anderem durch meine berufliche Qualifizierung zum Lehrer erhalten. Als ich zum ersten Mal im Praxissemester eigenen Unterricht gemacht habe, war das ein seltsames Gefühl: Da sitzen 28 Achtklässler, die einfach das machen, was ich ihnen sage (ich war im behüteten Ahaus und nicht im Pott 😉 ). Später im Ref bei meinen eigenen Klassen konnte ich zum ersten Mal Noten vergeben. Nochmal später beim Berufseinstieg saß ich plötzlich in Komitees, die innerhalb von 20 Minuten darüber entscheiden, ob ein junger Mensch ein Jahr seines Lebens an der Schule wiederholen soll oder nicht. Erst gestern beim Elternsprechtag, als einem Mädchen die Tränen runterkullerten, als ich die aktuelle schwierige Lage schilderte, spürte ich wieder, was ich da eigentlich in der Hand habe: Macht.

Ich bemerke die Macht nicht nur bei der Notenvergabe, auch wenn dies sicherlich eines der mächtigsten Machtmittel einer Lehrkraft ist. Auch im Unterricht und in der Interaktion mit Schülerinnen und Schülern merke ich zunehmend mehr, welche „Knöpfe“ ich drücken muss, um Lacher und Gesprächsprovokation, aber auch Angst, Scham und Ärger hervorzurufen, wenn ich (aus meiner Sicht) besonders frechen, faulen oder arroganten Zeitgenossen mal so richtig zeigen will, wer hier am „längeren Hebel sitzt“.

Ein Gespür für die Entwicklungsprozesse im Teenageralter kann es leicht machen, Macht auszuüben – sei es zum Guten oder zum Schlechten. Und ich glaube selbst die Schüler spüren dieses Machtgefälle und fühlen sich latent unwohl, wenn sie das Gefühl haben, ein Lehrer über ihnen missbraucht seine Macht, sei es durch abfällige Kommentare, unfaire Benotungspraxis, Panikmache bei den Eltern oder einfach nur dadurch, dass man zeigen will, wer hier die Hosen anhat. Sie mögen vielleicht nicht immer in der Lage zu sein, das zu artikulieren, aber ich denke jeder Mensch nimmt bewusst oder unbewusst manipulative Mechanismen und Anzeichen von Selbstherrlichkeit wahr.

Das gilt natürlich auch für private Beziehungen. Je länger meine Frau und ich uns gegenseitig kennen, desto mehr Macht können wir übereinander ausüben. Auch hier führt die Kenntnis über das Wesen, die Geschichte und die Komplexe des Anderen dazu, dass man mit relativ wenig Taten und Worten beides bewirken kann: aufbauen oder verletzen. Fallen lassen oder nachladen. Heilen oder schießen. In manchen Momenten spürt man die Macht förmlich in den Fingern und hat ein paar Sekunden Zeit, sich zu überlegen, ob man sie einsetzt, ob man den Gedanken ausspricht oder nicht, ob man umarmt oder weggeht, ob man hilft oder abwartet.

Macht und Machtgefälle können sich so vielfältig manifestieren: Im Flirten, in der Art und Weise, wie ich mit Bediensteten umgehe, in kulturellen Begegnungen, in geschlechtsbedingten Dynamiken, in schriftlicher Kommunikation, im Aktivieren und Aufstacheln seiner Follower. Ich denke nicht, dass wir vor Macht weglaufen müssen oder dass sie per se schädlich ist, wie so manche universitäre Theorie uns weismachen möchte. Aber ich bin überzeugt, dass wir die Machtmittel, die wir haben, bewusster wahrnehmen müssen, nicht zum Selbstzweck mit ihnen „spielen“ sollten und sie schließlich zum Wohle unserer Umgebung einsetzen sollte.

Ein großes Vorbild ist mir dabei jemand, der mit allen vorstellbaren Machtmitteln ausgestattet war und sie dennoch nicht zum Schaden anderer eingesetzt hat. Jesus in seiner Doppelidentität als Sohn Gottes und Erdenmensch nämlich hätte in jedem Moment die Pharisäer mit ihren ständigen Anklagen und nervtötenden Spitzfindigkeiten einfach zum Mond schießen können. Seine tausenden Follower hätte er ohne Probleme für seine Zwecke aktivieren und benutzen können. Selbst am Kreuz hätte eine Engelarmada dem ganzen ungerechten Schauspiel der Römer und Pharisäer ein spektakuläres Ende bereiten können. Ich hab mich schon öfters gefragt, ob es ihm nicht einfach in den Fingern gejuckt hat, es ihnen allen mal zu zeigen. Aber Jesus tat all das nicht. Vielleicht, verzeiht mir die Spekulation, weil er wusste, dass jeglicher noch so kleine und große Missbrauch von Macht, jede ungerechtfertigte Selbstzurschaustellung oder Bloßstellung eines Anderes nicht das bei den Menschen hervorgebracht hätte, was er wollte: Liebe aus freiem Willen.

Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. – 1. Johannes 4,18

2 Kommentare zu „Mit Waffe im Anschlag und Macht in den Fingern

  1. Nice article. I like the way you related the carrying of guns by security officers to the power you have as a teacher over your students and to how Jesus did not extend the power to subdue the pharisees. I am still thinking if i also have such a power over a group of people:)

    1. Thanks so much Fola! I do believe we all have power in some ways, whether it is professional power, relational power, the power of money, influence, you name it. I guess it is hard to see yourself as „powerful“ when in the time of growing up as a kid you are always one of the small guys. At least it was and still is for me.

Ich freue mich sehr über jegliche Reaktion - egal ob kritisch, ermutigend oder ergänzend :)