Es ist Freitag, die Bahntür geht auf. Kaum betrete ich die grauen Steine des Bahngleises, schallt es mir schon entgegen: „Bitte schützen Sie sich und andere. Halten Sie den Mindestabstand –“
„Lass mich in Ruhe!“ will ich der freundlichen Bahnhofsstimme zurufen. Vielleicht ist es die Erschöpfung der Arbeitswoche, vielleicht auch die Genervtheit über die ganze Situation. Seit fast 2 Jahren höre ich als Bahnpendler immer wieder die gleichen Schlagworte, egal ob inner- oder außerhalb der Züge: Abstand, Schutz, Maske.
„Ich habe mich ganz brav 3x pieksen lassen und meine Maske sitzt, also höre endlich auf mit dieser paternalistischen Dauerbeschallung.“
Aber das wird der Sprecher dieser Tonbandaufnahme in Dauerschleife wohl kaum hören. Wann die wohl aufgenommen wurde? Es muss Frühjahr 2020 gewesen sein.
Ein wenig kann ich die Menschen verstehen, die in all dem den Anbruch der großen Dystopien sehen. Wird man zwei Jahre lang immer wieder mit den gleichen Warnungen und Befehlen beschallt, und seien sie noch so richtig, kann man sich bei entsprechender politischer Einstellung oder psychischer Labilität als bloßer ohnmächtiger Adressat allgegenwärtiger propagandistischer Botschaften fühlen und entsprechend die Lautstärke der eigenen Musik und Podcasts aus dem rettenden Alternativuniversum noch lauter drehen, wenn immer es wieder erklingt: „Bitte schützen…“
Dabei ist es mit den wohlgemeinten Appellen meistens so, dass die Überzeugten nicht mehr überzeugt werden müssen und die Dissidenten, Desinterssierten oder Demotivierten auf Durchzug stellen.
Ein Phänomen, welches ich als Lehrer nur allzu gut kenne. Erst kürzlich, als ich dutzende Notengespräche anlässlich der Halbjahrszeugnisse führte, fühlte ich mich ein wenig wie der freundliche Bahnhofssprecher:
„Es wäre wirklich schön und wichtig, wenn du mehr sagen würdest. Was hält dich denn ab, dich zu beteiligen?“
Immer wieder die gleiche Botschaft; einige Schülerinnen und Schüler versuche ich schon seit Jahren zu ermutigen.
„Oh ja, ich weiß.“
Heißt es dann meistens. Sie lassen die kurze pädagogische Ermutigung über sich ergehen, um sich dann (zumeist) wieder in ihre eingeübte Beteiligungspassivität zurückzuziehen.
Um diese fast schon durchgeskripteten und ertraglosen Routine-Gespräche zu durchbrechen, braucht es Veränderung – Witz, Emotion, Kreativität, Nachdruck. Alles, nur nicht die gleiche Leier vom Band vor 2 Jahren.
Ich glaube, dass wir in unserer Kommunikation immer wieder stören, aufrütteln, überraschen müssen. Ansonsten nutzen sich Botschaft und Botschafter ab.
Die Kraft und Kreativität, die dafür nötig sind, habe ich jedoch nicht immer – weder in 20 wöchentlichen Unterrichtsstunden noch in 100 Notengesprächen noch in jeder Predigt oder jedem Freundschaftsgespräch, welches gerade am Anfang und Ende der Unterhaltung auch mit so mancher Floskel und generischen Segenswünschen daherkommt.
Vielleicht ist das auch okay so, denn auch auf Empfängerseite sind die Kraftreserven begrenzt: ein bisschen Durchzug und weißes Rauschen braucht jeder, zu viel Aufregung und Aufrüttelung ist schwer zu verarbeiten. So ist es manchmal sogar wohltuend, wohlvertraute Signale zum richtigen Zeitpunkt zu vernehmen, sei es die Pausen- oder Kirchenglocke oder vertraute Sätze wie:
„Ja, ich grüße euch ganz herzlich an diesem heutigen Sonntag zum…“
„Schön, dich zu sehen!“
„Mach es gut und pass auf dich auf!“
„Nächster Halt: Münster in Westfalen. Ausstieg in Fahrtrichtung links.“
Wie so oft liegt die Kunst darin, zu unterscheiden, wann es Zeit ist, zu irritieren und aufzuwühlen und wann wir lieber das Konversationsbächlein fließen lassen sollten. Dafür brauchen wir Weisheit, Erfahrung und letztlich auch Mut – denn Veränderung und Vertrautheit harmonieren in der Regeln nicht gut miteinander, zumindest nicht zum gleichen Zeitpunkt.
Ich auf jeden Fall möchte es öfter wagen, den repeat-Modus der eingeübten Aufnahme auszuschalten und selbst das Mikro in die Hand zu nehmen.
Wie goldene Äpfel in silbernen Schalen, so ist ein Wort, gesprochen zur rechten Zeit.
– Sprüche 25,11
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Hammer!!!! Richtig gut!
Du gibst mir grad Inspiration im Umgang mit meinen Klienten. Danke.