Die Kraft eines Jas – Einleben in Minden Teil 3 Vom Mut und der Freude, ein Ja zu seiner neuen Situation zu finden

Mit etwas zeitlichen und räumlichen Abstand – diese Zeilen schreibe ich am Ferienanfang bei meiner Schwiegerfamilie im hohen Norden – folgt nun der letzte Teil meiner Umzugs- und Umgewöhnungsreflexion über das Einleben in Minden. Als ich den Artikel zuerst plante, kamen mir relativ schnell 12 „Lektionen“ in den Sinn, die ich aber aufgrund der Textmenge in drei Teile aufsplittete. Im ersten Teil konzentrierte ich mich vornehmlich auf die Stadt und deren Kultur, im zweiten auf die soziale Eingewöhnung und im dritten geht es um hilfreiche Haltungen: Engagement, Entschlossenheit sowie – dem Anlass geschuldet – um Weihnachten. 

9. Heb’ den Müll auf (wenn er dich stört)

Im ersten Teil schrieb ich, dass Minden schön sei. Das empfinde ich auch noch immer so, doch die Ästhetik von Grüngürtel, Weser, Bergen und Fachwerk wird für mich zuweilen durch etwas scheinbar Banales gestört: Müll. Jogge ich im Sommer durch das „Glacis“, einer Art Mini-Promenade um die Stadt herum, so fällt mein Blick unweigerlich auf Chipstüten, Wodkaflaschen und sonstige Müllreste, die am Wegesrand oder neben Parkbänken liegen. Versuche, den Müll einfach zu ignorieren und nach oben zu den schönen Bäumen oder seitlich zur Weser zu schauen, scheitern bei mir. So ein Farbfleck mitten im Grünen sticht mir einfach ins Auge.

Und so begann ich, den Müll während des Joggens aufzuheben und in einen der nächsten zahlreich vorhandenen Mülleimer zu stopfen. Das ist eigentlich gar nicht so aufwändig und erhöht durch das Bücken und Aufrichten sogar noch die Bewegungsvielfalt 😉 Als ich Luise irgendwann mal davon berichtete, meinte sie: „Bassi, du ploggst!“. „Was mache ich?“ Mit dem Begriff „Plogging“ konnte ich gar nichts anfangen, aber tatsächlich gibt es für jedes noch so kleine Phänomen einen passenden Begriff. Nach kurzer Recherche stellte ich fest, dass das Wort von einem Trend aus Schweden kommt, wo sich verschiedene Jogger zusammengetan und in Parks während des Laufens Müll in Tüten gepackt haben.

Als ich einmal dann auch noch einen Einkaufswagen, der tagelang vor unserem Haus stand, wegfuhr, sagte Luise später zu mir: „Mein Almann!“ Nun, den Begriff kannte ich tatsächlich bereits – ein ordnungsliebender und zwanghafter „Kartoffeldeutsche“ ist damit gemeint, meistens eher als Fremdbezeichnung aus dem migrantischen Milieu. Nun, ich musste etwas schmunzeln – bin ich in Minden zum Almann geworden; ein Spießer, der sich über den Müll der Jugendlichen aufregt? In Münster habe ich nie Müll aufgehoben. Das lag aber auch daran, dass ich fast nie welchen gesehen habe. Weder am Aasee noch an der Promenade lagen bei meinen Morgenrunden viel Müll rum, abgesehen von großen Festen wie dem 1. Mai. Irgendwie haben es die meisten Menschen geschafft, ihren Müll mitzunehmen oder er wurde von der Stadt regelmäßig weggeschafft.

Aber statt zu meckern oder nostalgisch dem sauberen Münster hinterherzutrauern, ist das „Plogging“ für mich der konstruktivere Weg. Es ist relativ einfach, erfordert kaum Mehraufwand und schafft schnell sichtbare Ergebnisse: Geht man zwei Tage später joggen, ist der Weg meistens noch müllfrei. Ein wenig schade finde ich es, dass andere nicht auch einmal auf die Idee kommen – wenn nur jeder zehnte Spaziergänger oder Jogger etwas aufheben würde, wäre Müll in der Öffentlichkeit kaum ein Thema. Aber die Empfindungen darüber, was stört und der „Leidensdruck“, etwas deswegen tun zu müssen, sind unterschiedlich. Letztlich kann man wie so oft nur bei sich anfangen. In jeder Umgebung, in der einem etwas stört – sei es eine neue Stadt, eine Schule, ein Verein – wird es zwangsläufig Dinge geben, die einem nicht ganz passen. Leider verschwinden nicht alle Probleme so leicht wie Müll in der Tonne, aber dennoch merke ich bei mir selbst, dass Mitmachen statt Meckern eine hilfreichere und heilsamere Grundeinstellung ist für mich selbst und meine Mitmenschen. 

Es gibt weitaus größere Baustellen in Minden als den Müll und umso mehr Möglichkeiten, sich zu engagieren – Jugend-, Senioren- und Flüchtlingsarbeit, um nur drei zu nennen. Der berufliche Stress lässt mir nicht viel Kapazität fürs Ehrenamt, aber ich glaube, dass das Engagement in der Regel eines der besten Mittel ist, in einer Stadt anzukommen, sich mehr mit ihr zu identifizieren und etwas zurückzugeben. Viele Vereine und Gemeinden werden v.a. von Älteren getragen und für Jüngere hat das Ehrenamt längst die Selbstverständlichkeit verloren, die es mal bzw. eher noch hatte. Es muss ja nicht gleich ein fester Vereinsdienst sein – die Chipstüte in die Tonne, ein Lächeln für Spaziergänger, ein Trinkgeld für guten Service, eine Spende für eine gute Sache, eine Kleingruppe für gute Gemeinschaft oder ein Plausch auf dem Spielplatz kann schon der Anfang sein.

Ein wenig zurückgeben am besten nicht nur vor Weihnachten 🙂

10. Nimm was mit (wenn es sinnvoll ist)

Ein kurzer Exkurs in die Interkulturalität: Wenn man in eine neue Kultur kommt, wird man ja angehalten, sich anzupassen und auf neue Spiel- und Verhaltensregeln einzulassen. Als ich in den Senegal und nach Nigeria reiste, wurde mir nahegelegt, nur lange Hosen zu tragen und sogleich deckte ich mich mit Stoffhosen ein. Die Gastfreundschaft, Offenheit, Freundlichkeit und das Traditionsbewusstsein der „Gastgeberkultur“ lernte ich schnell zu schätzen. Gleichzeitig hat jede Kultur und jede Umgebung auch seine Macken und daher glaube ich, dass man nicht nur demütig alles Gute einer Gastkultur übernehmen sollte, sondern auch Vorzüge und Eigenarten der eigenen Kultur zumindest für sich beibehalten darf, sofern sie nicht unnötig verletzen. 

Eine der Dinge, die ich für mich als Münsteraner Kulturgut nach Minden mitbrachte und nicht abschütteln wollte, war das Radfahren. Nun habe ich darüber schon geschrieben und will hier nicht als Radmissionar auftreten. Aber dennoch war es tatsächlich auch eine bewusste Entscheidung, angesichts eines 3km-langen Arbeitswegs und einer fußläufig-erreichbaren Innenstadt und Gemeinde kein Auto anzuschaffen. Ich lerne gerne von Minden und lass mich auf neue Traditionen und Gepflogenheiten ein (sei es von der Stadtkultur oder von den vielen Russlanddeutschen vor Ort), aber dennoch muss ich nicht, nur weil es (gefühlt) alle machen, für jede Kurzstrecke ein Auto anschmeißen. 

Rauszufinden, wo man sich anpasst und wo man was beibehält, ist eine Frage der Persönlichkeit und der Weisheit. Es wäre schwierig, mit Kindern und Haus auf dem Lande oder im Vorort auf sein Rad zu bestehen. Wer umzieht, lässt immer einen Vorzug seiner Heimat zurück: in erster Linie die Kontakte, aber auch das Land- oder Stadtleben, eine Kulturszene, einen alten Arbeits- oder Schulplatz, die Jugendarbeit einer Gemeinde, vertraute Orte u.v.m. Zu akzeptieren, was geht und was nicht mehr geht, erfordert Einsicht und Demut.  

11. Akzeptiere Rest-Wehmut (aber nicht zu lange)

Bei allen Freuden an einer neuer Stadt und den neuen Kontakten sowie der hoffentlich vorhandenen Weisheit, sich auf Veränderungen angemessen einzustellen, ist es fast unausweichlich, dass nach einem Umzug Momente der Wehmut entstehen. Momente, in denen man z.B. die Nähe zu seinen alten Freunden vermisst oder an Zeiten erinnert wird, die rückblickend so unbeschwert und schön erscheinen.

Wir waren in unserem ersten Mindener Jahr immer mal wieder in Münster, beispielsweise auf Hochzeiten, Geburtstagen oder persönlichen Treffen. Im Schnitt waren es wohl etwa alle zwei Monate. Jedes Mal, wenn ich den Münsteraner Bahnhof betrat und unterwegs zu alten Freunden war und dabei so viele junge Menschen auf den Straßen sah, spürte ich die Vitalität, Schönheit und Vertrautheit dieser Stadt, in der ich immerhin 12 Jahre lebte. Diese Nostalgie und Sehnsucht, die dann in mir hochkommt, ist ein starkes, ein bittersüßes Gefühl. Es ist nicht allein Trauer, es mischt sich auch Dankbarkeit und Freude über die vielen schönen Jahre und Begegnungen mit hinein. 

Tatsächlich lässt die Wehmut aber nach, wenn ich in Minden unterwegs bin und dort „gut zu tun habe“. Das hat auch mit dem nächsten und letzten Punkt zu tun:

12. Sei entschlossen (es befreit)

Die Entscheidung, nach Minden zu ziehen, haben wir als Ehepaar v.a. aus beruflichen Gründen getroffen: Einen Ort zu haben, wo Luise und ich beide ganz ohne Pendelei und horrender Immobilienpreise arbeiten, leben und wirken können, schien uns für diese Lebensphase sinnvoll zu sein. Wir interpretierten einige offenen Türen hinsichtlich Stellen, Wohnung und Freundschaften als göttliche Führung und entschlossen uns schließlich, hier unsere Zelte aufzuschlagen. 

Diese Entscheidung wirkt bis heute nach und damit meine ich nicht nur den offensichtlichen Umstand, dass wir nun hier leben. Es hilft mir als tendenziell zaghafter Mensch, eine Sache durchzuziehen und nicht grübelnd zwischen verschiedenen Optionen und Orten hin und her zu schwanken. Das Ja zu Minden hat neue Energien und Möglichkeiten freigesetzt: wir haben uns ganz bewusst auf neue Menschen und Orte eingelassen und freuen uns über manche positive Dynamik, die wir vor einem Jahr gar nicht erahnen konnten. Ein Stückweit hat uns die Entscheidung „stark“ gemacht. Es war anstrengend und teilweise awkward, aber rückblickend sind wir schon eine gute Wegstrecke gekommen. Das alte Münsteraner Leben fühlt sich schon weiter weg an, eine neue Normalität hat eingesetzt. Sicherlich wäre das Leben woanders auch interessant gewesen, aber dies ist nun unser Leben und es tut gut, es so anzunehmen und zu gestalten. Silvester sind wir sogar zum ersten Mal in Minden – als Mitarbeiter auf einer Schülerfreizeit von einer Organisation, in der wir uns vor 7 Jahren gefunden haben. Es ist ein wenig wie Umbruch und Heimkommen zugleich.
Gewissermaßen ist es mit der Umzugsentscheidung wie mit anderen großen Entscheidungen, z.B. der Eheschließung oder der Berufswahl. Erst wenn man wirklich „drin“ ist, kann man den Gestaltungsrahmen voll nutzen und den Segen erfahren, der in einem „Ja“ zu einer Sache oder einer Person liegt. 

Manche Entscheidungen sind auch etwas einfacher. Ich jogge meistens rechts herum gegen den Uhrzeigersinn des „Glacis'“ 😉

Ein kosmischer Umzug

Nun kann ich es als Hobby-Prediger nicht lassen, zwei Tage vor Weihnachten nicht auch noch einen weihnachtlichen Gedanken einzustreuen. Diese Serie drehte sich ja primär um unseren Umzug und unsere Eingewöhnung in einer neuen Umgebung. Auch wenn es inhaltlich naheliegend ist, wäre es vermessen, Jesu „Umzug“ vom Himmel auf die Erde mit unserem gleichzusetzen.

Und doch empfinde ich nach unserer „Umtopfung“ noch mehr Respekt und Bewunderung gegenüber Jesu Menschwerdung, wenn ich mir vorstelle, was dieser „Umzug“, der deutlich weiter ging als 130km, in ihm wohl an Entfremdung ausgelöst hat. Wie oft wurde er missverstanden oder abgelehnt, was letztlich mit seiner „himmlischen Herkunft“ und dem daraus abgeleiteten Selbstanspruch Jesu zusammenhing. Sogar in seiner irdischen Heimat Nazareth wunderten sich die Menschen darüber, wie denn „einer von ihnen“ – Sohn eines Zimmermanns, Tochter von Maria, Bruder von Jakobus – behauptet, so besonders zu sein (Mt 13,53-58).  Die Entschlossenheit, mit der er nicht nur zu uns kam, sondern auch hier auf Erden weilte, wirkte und starb, beeindruckt mich mehr denn je. Möglicherweise wird Jesus gerade für diejenigen Menschen real, die sich an ihrem Ort, Job oder in ihren Beziehungen etwas fremd, überwältigt, allein oder einfach noch nicht ganz angekommen fühlen. 

“If we find ourselves with a desire that nothing in this world can satisfy, the most probable explanation is that we were made for another world.” – C.S. Lewis

Ein Kommentar zu „Die Kraft eines Jas – Einleben in Minden Teil 3 Vom Mut und der Freude, ein Ja zu seiner neuen Situation zu finden

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